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Habermas und die Religion
 


Warum der Glaube nicht verflachen dürfe

 


Von Christa Tamara Kaul   -  November 2025
 


In einer Zeit, in der Religion – zumindest im westlichen Kulturkreis – zunehmend als privates Relikt vergangener Epochen gilt, überrascht es, wenn einer der bedeutendsten Philosophen und Soziologen der Gegenwart ihre öffentliche Bedeutung betont. Jürgen Habermas, der lange als säkularer Vordenker galt, hat in seinem Spätwerk eine bemerkenswerte Wende vollzogen. Der Philosoph warnt vor einer „Verflachung“ religiöser Inhalte – und fordert ein neues Miteinander von Glauben und Vernunft.

Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, prägt seit Jahrzehnten die politische Philosophie (nicht nur) Deutschlands. Seine „Theorie des kommunikativen Handelns“ setzte auf die Kraft rationaler Argumentation in einer säkularisierten Öffentlichkeit. Religion spielte darin kaum eine Rolle. Sie erschien als Auslaufmodell der Moderne, das mit dem Fortschritt der Vernunft allmählich verblasst.

Doch seit den 1990er Jahren und besonders seit seiner Friedenspreisrede 2001 spricht Habermas anders. Hier und dann vor allem auch 2005 in seinen Aufsätzen zum Thema „Zwischen Naturalismus und Religion“ erkennt er an, dass Religion auch in modernen Gesellschaften eine bleibende Bedeutung hat. Er spricht dabei von einer „postsäkularen Gesellschaft“, in der säkulare und religiöse Bürgerinnen und Bürger wechselseitig voneinander lernen müssten. Religion sei nicht verschwunden, sondern bleibe ein beständiger Faktor – selbst in liberalen Demokratien. Dabei geht es nicht um eine Rückkehr vergangener religiöser Strukturen, sondern um die Anerkennung, dass religiöse Traditionen normative Ressourcen enthalten, die für moderne Gesellschaften weiterhin bedeutsam sind.

Begriffe wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit sind historisch eng mit christlichen Denkfiguren verknüpft. Diese „semantischen Potenziale“ ließen sich, so Habermas, nicht beliebig durch säkulare Argumente ersetzen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Fragmentierung könnten Religionen Orientierung und kritische Impulse liefern – etwa indem sie Sinnfragen stellen, die jenseits politischer Nützlichkeit liegen. Worin der Philosoph eine Chance für eine pluralistische Öffentlichkeit sieht.

Gleichzeitig warnt Habermas vor der Gefahr der Verflachung: Wenn Religion nur noch als moralischer Lieferant oder kulturelle Kulisse fungiere, verliere sie ihre Substanz. Wer christliche Botschaften allein auf Schlagworte wie „Solidarität“ oder „Nächstenliebe“ reduziert, ohne ihren theologischen Gehalt ernst zu nehmen, betreibe eine Verflachung des Glaubens.

Diese Gefahr sieht Habermas nicht nur in säkularen Debatten, sondern auch innerhalb der Kirchen. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit kann dazu führen, dass zentrale Glaubensüberzeugungen verwässert werden. Doch eine Religion, die ihren transzendenten Kern verliert, wird im öffentlichen Diskurs kaum noch eine eigenständige Stimme behalten, wenn sie es bei den Glaubensinhalten bei einer zuversichtlichen Lebensweise bewenden lasse. Wenn sie selbst dann noch von einer „religiösen Glaubenspraxis“ spreche, wo es sich um eine „auf die Immanenz zurück gelenkte Glaubenseinstellung“ handele, bei der es „nicht mehr auf die Glückseligkeit einer alles Innerweltliche transzendierenden Erfüllung“ ankomme, minimiere sie die Substanz der eigenen Botschaft, so Habermas 2025 in einem Grußwort zur Festschrift für den Frankfurter Religionsphilosophen Thomas Schmidt.

So sieht der Philosoph, der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, den transzendenten Anspruch des christlichen Glaubens als unerlässlich. „Die christliche Hoffnung richtet sich unter anderem auf die Auferstehung von den Toten und eine Erlösung von allen Übeln dieser Welt und ist ihrerseits abhängig vom Glauben an die Verheißung Gottes. Dieser Akt des Glaubens an das Eintreten des Verheißenen prägt auch den Modus des täglichen Lebens.“

Als wichtig für die postsäkulare Gesellschaft erachtet Habermas dabei ein wechselseitiges Lernen als demokratisches Prinzip. Religiöse Bürger sollen ihre Überzeugungen so artikulieren, dass sie für alle nachvollziehbar werden – auch für Nichtglaubende. Umgekehrt müssen säkulare Bürger religiöse Beiträge nicht von vornherein abwehren, sondern offen prüfen, was diese inhaltlich beitragen können.

In Parlamenten und Gerichten müsse zwar in allgemein zugänglicher Sprache argumentiert werden. Doch im vorpolitischen Raum – also etwa in Kirchen, Moscheen oder zivilgesellschaftlichen Gruppen – sollten religiöse Stimmen ihre eigene Sprache behalten dürfen und auch möglichst gebrauchen. So können aus diesem Raum Impulse in den öffentlichen Diskurs hineinwirken.

Ein prägnantes Beispiel für dieses angestrebte Verhältnis von Glaube und Vernunft bot das Gespräch zwischen Habermas und Joseph Ratzinger im Jahr 2004. Der Philosoph und der spätere Papst Benedikt XVI. diskutierten über die Grundlagen des säkularen Staates und die Rolle religiöser Traditionen. Detlef Horster hat dieses Aufeinandertreffen in seinem Buch „Jürgen Habermas und der Papst – Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat“ analysiert und aufgezeigt, wie beide Seiten trotz unterschiedlicher Perspektiven einen gemeinsamen ethischen Boden suchten. Der Dialog wurde damit zu einem praktischen Beispiel für das, was Habermas später als postsäkularen Diskurs theoretisch ausformulierte.

Dabei ist Habermas’ Intervention von 2025 keineswegs ein Ruf nach religiöser Dominanz. Es ist vielmehr ein philosophisches Plädoyer dafür, Religion nicht auf moralische Floskeln zu reduzieren, sondern ihren Eigengehalt ernst zu nehmen. Nur so könne sie im Zusammenspiel mit säkularer Vernunft ihre gesellschaftliche Bedeutung entfalten. Der Philosoph erinnert damit daran, dass moderne Demokratien nicht nur von – den unbedingt wichtigen – Institutionen leben, sondern auch von den Quellen, aus denen ihre Werte stammen.

Sich dieser Quellen bewusst zu sein und immer wieder daran zu erinnern, ist richtig und wichtig. Denn unsere Kultur, unsere Zivilisation und unser gesamter Wertekanon beruhen weitgehend auf dem christlichen Glauben. Allerdings sollte und darf diese grundsätzliche Anerkennung und Wertschätzung überlieferter religiöser Werte und ihres Einflusses auf das demokratische Gesellschaftssystem des westlichen Kulturkreises die Kirche(n) nicht davon abhalten, nach einer zeitgemäßen Interpretation des – weitgehend noch immer alttestamentarischen – Gottesbildes zu suchen. Was mit einer Verflachung des Glaubens nichts zu tun hat.

 

 

Links zum Thema

 

https://www.nomos-elibrary.de/de/document/view/pdf/uuid/0f6ab64c-c92d-3771-8452-6b7f7b4e6330?page=1

https://www.nomos-shop.de/de/p/den-diskurs-bestreiten-gr-978-3-7560-2386-8

https://www.uni-frankfurt.de/77059324/Religionsphilosophie

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul