In einer Zeit, in der Religion – zumindest im westlichen
Kulturkreis – zunehmend als privates Relikt vergangener Epochen gilt,
überrascht es, wenn einer der bedeutendsten Philosophen und
Soziologen der Gegenwart ihre öffentliche Bedeutung betont. Jürgen
Habermas, der lange als säkularer Vordenker galt, hat in seinem
Spätwerk eine bemerkenswerte Wende vollzogen. Der Philosoph warnt vor
einer „Verflachung“ religiöser Inhalte – und fordert ein neues
Miteinander von Glauben und Vernunft.
Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, prägt seit Jahrzehnten die
politische Philosophie (nicht nur) Deutschlands. Seine „Theorie
des kommunikativen Handelns“ setzte auf die Kraft rationaler
Argumentation in einer säkularisierten Öffentlichkeit. Religion
spielte darin kaum eine Rolle. Sie erschien als Auslaufmodell der
Moderne, das mit dem Fortschritt der Vernunft allmählich verblasst.
Doch seit den 1990er Jahren und besonders seit seiner
Friedenspreisrede 2001 spricht Habermas anders. Hier und dann vor
allem auch 2005 in seinen Aufsätzen zum Thema „Zwischen Naturalismus
und Religion“ erkennt er an, dass Religion auch in modernen
Gesellschaften eine bleibende Bedeutung hat. Er spricht dabei von
einer „postsäkularen Gesellschaft“, in der säkulare und religiöse
Bürgerinnen und Bürger wechselseitig voneinander lernen müssten.
Religion sei nicht verschwunden, sondern bleibe ein beständiger
Faktor – selbst in liberalen Demokratien. Dabei geht es nicht um eine
Rückkehr vergangener religiöser Strukturen, sondern um die
Anerkennung, dass religiöse Traditionen normative Ressourcen
enthalten, die für moderne Gesellschaften weiterhin bedeutsam sind.
Begriffe wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit sind
historisch eng mit christlichen Denkfiguren verknüpft. Diese
„semantischen Potenziale“ ließen sich, so Habermas, nicht beliebig
durch säkulare Argumente ersetzen. Gerade in Zeiten
gesellschaftlicher Fragmentierung könnten Religionen Orientierung und
kritische Impulse liefern – etwa indem sie Sinnfragen stellen, die
jenseits politischer Nützlichkeit liegen. Worin der Philosoph eine
Chance für eine pluralistische Öffentlichkeit sieht.
Gleichzeitig warnt Habermas vor der Gefahr der Verflachung:
Wenn Religion nur noch als moralischer Lieferant oder kulturelle
Kulisse fungiere, verliere sie ihre Substanz. Wer christliche
Botschaften allein auf Schlagworte wie „Solidarität“ oder
„Nächstenliebe“ reduziert, ohne ihren theologischen Gehalt ernst zu
nehmen, betreibe eine Verflachung des Glaubens.
Diese Gefahr sieht Habermas nicht nur in säkularen Debatten,
sondern auch innerhalb der Kirchen. Der Wunsch nach
gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit kann dazu führen, dass zentrale
Glaubensüberzeugungen verwässert werden. Doch eine Religion, die
ihren transzendenten Kern verliert, wird im öffentlichen Diskurs kaum
noch eine eigenständige Stimme behalten, wenn sie es bei den
Glaubensinhalten bei einer zuversichtlichen Lebensweise bewenden
lasse. Wenn sie selbst dann noch von einer „religiösen
Glaubenspraxis“ spreche, wo es sich um eine „auf die Immanenz zurück
gelenkte Glaubenseinstellung“ handele, bei der es „nicht mehr auf die
Glückseligkeit einer alles Innerweltliche transzendierenden
Erfüllung“ ankomme, minimiere sie die Substanz der eigenen Botschaft,
so Habermas 2025 in einem Grußwort zur Festschrift für den
Frankfurter Religionsphilosophen Thomas Schmidt.
So sieht der Philosoph, der sich selbst als „religiös
unmusikalisch“ bezeichnet, den transzendenten Anspruch des
christlichen Glaubens als unerlässlich. „Die christliche Hoffnung
richtet sich unter anderem auf die Auferstehung von den Toten und
eine Erlösung von allen Übeln dieser Welt und ist ihrerseits abhängig
vom Glauben an die Verheißung Gottes. Dieser Akt des Glaubens an das
Eintreten des Verheißenen prägt auch den Modus des täglichen Lebens.“
Als wichtig für die postsäkulare Gesellschaft erachtet Habermas
dabei ein wechselseitiges Lernen als demokratisches Prinzip.
Religiöse Bürger sollen ihre Überzeugungen so artikulieren, dass sie
für alle nachvollziehbar werden – auch für Nichtglaubende. Umgekehrt
müssen säkulare Bürger religiöse Beiträge nicht von vornherein
abwehren, sondern offen prüfen, was diese inhaltlich beitragen
können.
In Parlamenten und Gerichten müsse zwar in allgemein zugänglicher
Sprache argumentiert werden. Doch im vorpolitischen Raum – also
etwa in Kirchen, Moscheen oder zivilgesellschaftlichen Gruppen –
sollten religiöse Stimmen ihre eigene Sprache behalten dürfen und
auch möglichst gebrauchen. So können aus diesem Raum Impulse in den
öffentlichen Diskurs hineinwirken.
Ein prägnantes Beispiel für dieses angestrebte Verhältnis von
Glaube und Vernunft bot das Gespräch zwischen Habermas und Joseph
Ratzinger im Jahr 2004. Der Philosoph und der spätere Papst
Benedikt XVI. diskutierten über die Grundlagen des säkularen Staates
und die Rolle religiöser Traditionen. Detlef Horster hat dieses
Aufeinandertreffen in seinem Buch „Jürgen Habermas und der Papst –
Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen
Staat“ analysiert und aufgezeigt, wie beide Seiten trotz
unterschiedlicher Perspektiven einen gemeinsamen ethischen Boden
suchten. Der Dialog wurde damit zu einem praktischen Beispiel für
das, was Habermas später als postsäkularen Diskurs theoretisch
ausformulierte.
Dabei ist Habermas’ Intervention von 2025 keineswegs ein Ruf nach
religiöser Dominanz. Es ist vielmehr ein philosophisches Plädoyer
dafür, Religion nicht auf moralische Floskeln zu reduzieren, sondern
ihren Eigengehalt ernst zu nehmen. Nur so könne sie im Zusammenspiel
mit säkularer Vernunft ihre gesellschaftliche Bedeutung entfalten.
Der Philosoph erinnert damit daran, dass moderne Demokratien nicht
nur von – den unbedingt wichtigen – Institutionen leben, sondern auch
von den Quellen, aus denen ihre Werte stammen.
Sich dieser Quellen bewusst zu sein und immer wieder daran zu
erinnern, ist richtig und wichtig. Denn unsere Kultur, unsere
Zivilisation und unser gesamter Wertekanon beruhen weitgehend auf
dem christlichen Glauben. Allerdings sollte und darf diese
grundsätzliche Anerkennung und Wertschätzung überlieferter religiöser
Werte und ihres Einflusses auf das demokratische Gesellschaftssystem
des westlichen Kulturkreises die Kirche(n) nicht davon abhalten, nach
einer zeitgemäßen Interpretation des – weitgehend noch immer
alttestamentarischen – Gottesbildes zu suchen. Was mit einer
Verflachung des Glaubens nichts zu tun hat.