Der Trend
zur alternden und schrumpfenden Gesellschaft ist ungebrochen: 2006
wurden in Deutschland rund 672.700 Kinder geboren, wie das Statistische
Bundesamt Anfang September 2007 mitteilte. Das waren noch einmal 13.100
Geburten weniger als 2005. Vorschläge, wie den Negativfolgen der
demographischen Entwicklung zu begegnen sei, gibt es viele. Jetzt hat
Gunter
Steinmann, Professor für Volkswirtschaft in
Halle-Wittenberg, in seinem Buch
"Kindermangel
in Deutschland"
Lösungsansätze aus
bevölkerungsökonomischer Perspektive vorgelegt, die polarisieren dürften. Im Interview stellt er
sie vor.
Herr Prof.
Steinmann, seit Jahren schon wird auf verschiedenen Ebenen das Problem
des Bevölkerungsschwundes und seiner möglichen Negativfolgen erörtert
und zu lösen versucht, etwa in der Soziologie, Medizin und Psychologie.
Bislang allerdings bestenfalls mit minimalem Erfolg. Sie fordern nun
eine neue Familienpolitik unter Berücksichtigung
bevölkerungsökonomischer Aspekte. Waren die bisherigen Ansätze alle
falsch?
Gunter Steinmann: Es ist richtig und auch notwendig, dass die
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sich mit der aktuellen
demographischen Entwicklung und ihrer Problemstellung auseinandersetzen.
Nur alle Disziplinen zusammen können die Wirklichkeit voll erfassen und
abbilden. Allerdings - die bevölkerungsökonomische Perspektive ist
bislang, vor allem in der Politik, weitgehend ausgeklammert oder doch
zumindest vernachlässigt worden.
Vernachlässigt möglicherweise deshalb, weil die bevölkerungsökonomische
Analyse einerseits mit Begriffen wie Kindernutzen und Kinderqualität
oder Humankapital vielen unangemessen erscheint und andererseits auch
historisch belastet ist?
Gunter Steinmann: Nun, die bevölkerungsökonomische Herangehensweise ist
notwendig, da sie Ursachen und wahrscheinliche Konsequenzen einer
Bevölkerungsstruktur recht präzise aufzeigt und den Blick für notwendige
politische Maßnahmen schärft.
Grundsätzlich kann Familienpolitik sozialpolitisch und
bevölkerungspolitisch begründet werden. Und zwar können diese Aspekte
gemeinsam oder alternativ in Betracht gezogen werden. In den meisten
Industrieländern spielen beide Komponenten eine mehr oder minder gleich
wichtige Rolle. In einigen Ländern allerdings, etwa in Frankreich,
werden vorrangig die bevölkerungspolitischen Anliegen bedient. Die
deutsche Familienpolitik dagegen wurde bisher nahezu ausschließlich von
sozialpolitischen Aspekten bestimmt. Was vor allem historische Ursachen
hat, denn im Dritten Reich wurde die Bevölkerungspolitik für
rassenpolitische und eugenische Zwecke missbraucht.
Welche
Vorteile bringt eine stärker bevölkerungsökonomisch ausgerichtete
Familienpolitik?
Gunter Steinmann: Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, wo die niedrigsten
Geburtenraten anzutreffen sind. Nämlich vor allem bei gut ausgebildeten
Frauen mit günstigen Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten, etwa
bei Akademikerinnen. Und hier wird die sozialpolitische Komponente die
Fertilitätsraten nicht erhöhen. Sie führt allenfalls zu
überdurchschnittlichen Fertilitätsraten bei gering qualifizierten
Frauen, besonders bei Zuwanderinnen. Daher muss sich die Familienpolitik
neu orientieren, und zwar mit dem Ziel einer demographischen
Nachhaltigkeit. Das neue Elterngeld ist die erste familienpolitische
Maßnahme in der Bundesrepublik, die auf die Zielgruppe gut ausgebildeter
Frauen besonders abstellt.
Wie
definieren Sie demographische Nachhaltigkeit?
Gunter Steinmann: Ziel muss es sein, allen Bürgerinnen und Bürgern – und
nicht nur den gering Qualifizierten und gering Verdienenden – die
Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Vor allem aber müssen die gut
ausgebildeten Frauen erreicht werden, die in dieser Hinsicht bisher
vernachlässigt wurden. Das ist umso wichtiger, da nicht nur die
Kinderquantität, also die Anzahl der Kinder, erhöht, sondern auch und
vor allem die sogenannte Kinderqualität, also deren Erziehung und
Ausbildung, verbessert werden soll. Da bei den aktuellen Maßnahmen die
Abwägung zwischen Kindernutzen und Kinderkosten für die gut verdienenden
Frauen der Mittelschicht ein besonders unvorteilhaftes Verhältnis
ergibt, muss die Kluft zwischen der optimalen Kinderzahl der Haushalte,
was als individuelle Rationalität bezeichnet wird, und der
gesellschaftlich wünschenswerten Kinderzahl, also der kollektiven
Rationalität, geschlossen werden.
Anders ausgedrückt: Eine rein sozialpolitisch ausgerichtete
Familienpolitik strebt prinzipiell die Verbesserung der wirtschaftlichen
Situation von Familien an. Eine bevölkerungspolitisch ausgerichtete,
nachhaltige Familienpolitik will darüber hinaus Einfluss nehmen auf die
Zahl, die Erziehung und die Ausbildung der Kinder. Nehmen wir als
Beispiel für eine sozialpolitische Maßnahme die Ermäßigung von
Eintrittspreisen für kinderreiche Familien in Museen. So verdienstvoll
und wünschenswert solche Maßnahmen auch sind, so werden sie doch kaum
potentielle Eltern dazu veranlassen, ihre Lebenspläne zu revidieren und
sich für mehr Kinder zu entscheiden. Dazu bedarf es anderer Grundlagen.
Welche
Anreize könnten Ihrer Ansicht nach die Zielgruppe der gut ausgebildeten
und gut verdienenden Frauen der Mittelschichten zur Entscheidung für
mehr Kinder motivieren?
Gunter Steinmann: Dafür bedarf es mehrerer Maßnahmen, zu denen das
Erziehungs- bzw. Elterngeld und das Familiensplitting – als Erzeugung
eines Einkommensnutzens von Kindern – ebenso zählen wie die
Rückübertragung eines Teils der Unterhaltspflichten für die älteren
Menschen vom Staat auf deren Kinder, also eine Teilreprivatisierung des
sozialisierten Sicherungsnutzens von Kindern. Das bisherige Kindergeld
und die Anrechnung von Kindern bei der späteren Rente sind für alle
gleich, und bringen nur einkommensschwachen Müttern und Familien, etwa
gering Qualifizierten oder Zuwanderern, signifikante Einkommens- und
Sicherungsnutzen und entsprechende pronatalistische Effekte. Dagegen
erzielen gut verdienende Frauen gegenwärtig größere Vorteile, wenn sie
auf Kinder, Kindergeld und Rentenentgeltpunkte verzichten und
stattdessen alle Karriere- und Einkommenschancen wahrnehmen. Die
Vorteile dieser Frauen durch Kindergeld und Rentenentgeltpunkte
erreichen nur einen Bruchteil ihres Einkommenspotentials im Fall eines
Verzichts auf Kinder. Für diese Adressatengruppe sind daher beide
Maßnahmen bevölkerungspolitisch ineffizient.
Wir brauchen ein ganzes Arsenal von Maßnahmen, um den Mittelschichten
eine Fülle von Anreizen zur Entscheidung für mehr Kinder zu geben. Ich
bin fest davon überzeugt, dass die Kombination von Elterngeld,
Familiensplitting und Steuerabzug der Kinderbetreuungskosten bei gut
Verdienenden, Kindergeld und Kinderbetreuungsgutscheine bei gering
Verdienenden, Vorschulerziehung und Ganztagsschulen mit
Hausarbeitenbetreuung, Begrenzung der Finanzierungspflicht der Eltern
auf die Schulausbildung ihrer Kinder, Reprivatisierung von Teilen der
Alterssicherung, also eine private Kinderrente, die gewünschten
pronatalistischen Resultate hervorbringen würden.
Wie sollte
die von Ihnen geforderte teilweise Reprivatisierung der Alterssicherung,
also die „kinderfreundliche“ Rente, strukturiert sein?
Gunter Steinmann: Gestatten Sie eine längere Vorbemerkung, bevor ich auf
Ihre Frage direkt eingehe.
In den Entwicklungsländern sichern Kinder den Lebensunterhalt ihrer
Eltern im Alter, bei Krankheit und in Notfällen, d.h. sie bieten
Sicherungsnutzen. Auch für unsere Vorfahren war der Sicherungsnutzen das
Hauptmotiv für Kinder. Dieser Aspekt wird in der gegenwärtigen
politischen Debatte weitgehend übersehen. Kaum jemand weiß, dass der
Geburtenrückgang in Deutschland schon Ende des 19.Jahrhundert einsetzte
und viel stärker ausfiel als beim sogenannten Pillenknick im letzten
Drittel des 20.Jahrhunderts. Hatten die Frauen des Geburtsjahrgangs 1865
noch durchschnittlich 4,7 Kinder, waren es bei den Frauen des
Geburtsjahrgangs 1890 nicht einmal mehr halb so viele Kinder. Der
Rückgang wurde verursacht durch die Einführung des sozialen
Sicherungssystems ab 1881, wodurch die Menschen keine eigenen Kinder
mehr zur Sicherung im Alter und bei Krankheit benötigten.
Der enge Zusammenhang zwischen Geburtenrückgang und schwindendem
Sicherungsnutzen von Kindern ist nicht auf Deutschland beschränkt,
sondern ist überall auf der Welt zu beobachten, sobald die Sicherung im
Alter und bei Krankheit durch soziale Sicherungssysteme und/oder durch
Bildung privaten Vermögens möglich wird. Die Individuen benötigen heute
für ihre Altersicherung zwar keine eigenen Kinder, aber sie brauchen auf
jeden Fall Jüngere, die ihre Leistungen durch Beiträge finanzieren, etwa
beim Umlagesystem, oder ihr Rentenkapital produktiv einsetzen und die
Verzinsung und Tilgung zur Finanzierung der Rentenzahlungen
sicherstellen, wie beim Kapitaldeckungsverfahren. Individuell brauchen
wir heute also keine eigenen Kinder als Sicherheitsgaranten, aber
kollektiv schon. Die kollektive Rationalität verlangt eine Entscheidung
für Kinder, auch wenn die individuelle Rationalität oft eine
Entscheidung gegen Kinder nahelegt. Die Anpassung der individuellen
Rationalität an die kollektive Rationalität kann jedoch nur gelingen,
wenn der Sicherungsnutzen teilweise wieder an das Vorhandensein eigener
Kinder gebunden und das „Trittbrettfahrerverhalten“ Kinderloser auf
Kosten der Familien bei der Alterssicherung eingeschränkt wird.
Wie wollen
Sie dem Trittbrettfahrerverhalten begegnen?
Gunter Steinmann: Ich schlage eine Aufspaltung des bestehenden
umlagefinanzierten Alterssicherungssystems in zwei Systeme vor. Ein Teil
des Rentenbeitrags soll weiterhin in die gesetzliche Rentenversicherung
fließen, als „allgemeiner Rentenbetrag“, und eine umlagenfinanzierte,
allgemeine Rente für alle Versicherten unabhängig von ihrer Kinderzahl
finanzieren. Die durchschnittliche allgemeine Rente würde jedoch
niedriger ausfallen, weil die bisherigen Rentenbeiträge nicht mehr
vollständig in dieses Teilsystem einfließen. Der zweite Teil des
Rentenbeitrags soll in eine neu zu gründende gesetzliche
Familienrentenversicherung fließen und für eine zusätzliche, direkt aus
den Beiträgen der eigenen Kinder finanzierte Altersrente ihrer Eltern
verwendet werden, als Beitrag zur „privaten Kinderrente“. Auf diesem Weg
erhalten die Eltern von ihren beitragsverpflichteten Kindern eine
Gegenleistung für ihre Geld- und Zeitaufwendungen in der Vergangenheit.
Bei meinem System bekommen also Rentner ohne bzw. mit weniger Kindern
keine bzw. eine niedrigere private Kinderrente als Rentner mit mehr
Kindern. Bei gleichem Lebenseinkommen müssen daher Kinderlose bzw.
Kinderarme im Vergleich zu Kinderreichen entweder mit der niedrigen
allgemeinen Rente bzw. der geringeren privaten Kinderrente vorlieb
nehmen oder während ihres Erwerbslebens mehr sparen, um die gleiche
Gesamtrente zu erhalten. Bei meinem Konzept werden die Pflichtbeiträge
zur privaten Kinderrente in eine „gesetzlichen Familienversicherung“
eingezahlt und für den Aufbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung
ihrer Eltern angespart. Sobald die Eltern das Renteneintrittsalter
überschreiten und Rentenzahlungen benötigen, erhalten die Eltern
Kinderrenten aus der gesetzlichen Familienversicherung. Die Einrichtung
der gesetzlichen Familienpflichtversicherung garantiert, dass Kinder die
Sicherungsfunktion gegenüber ihren Eltern auch erfüllen.
Die Höhe der privaten Kinderrente der Eltern ist also abhängig von der
Zahl und dem Einkommen ihrer Kinder. Für diese Verknüpfung sprechen
neben den pronatalistischen Anreizen zwei weitere Gründe. Erstens, weil
im Regelfall hohes Einkommen an die Voraussetzung einer guten Bildung
und Ausbildung geknüpft ist, und die Eltern für einen höheren Bildungs-
bzw. Ausbildungsabschluss ihrer Kinder mehr Geld- und Zeitaufwendungen
zu tragen haben, sollen sie auch an den Erträgen ihrer
Bildungsinvestitionen in ihre Kinder partizipieren. Zweitens wächst
damit auch das elterliche Interesse an einer besseren Ausbildung der
Kinder. Das Modell einer privaten Kinderrente schafft also Anreize für
eine höhere Zahl von Kindern, die höhere „Kinderquantität“, und setzt
darüber hinaus Anreize für eine bessere Bildung bzw. Ausbildung der
Kinder, die höhere „Kinderqualität“.
Aus welcher
politischen Richtung erwarten Sie eine positive Resonanz?
Gunter Steinmann: Ich habe meine Vorschläge auf verschiedenen
Parteiveranstaltungen präsentiert. Sie wurden interessiert zur Kenntnis
genommen, aber dabei blieb es. Ich hoffe, dass die Politiker sich
intensiver mit dem Gedanken der Wiederherstellung des Sicherungsnutzens
von Kindern befassen. Denn so notwendig und wünschenswert bessere
Kinderbetreuung und bessere Vereinbarkeit von Beruf und Kind sind,
beides reicht nicht aus für eine signifikante Erhöhung der
Geburtenziffern, wie die Erfahrungen zeigen. Sachsen-Anhalt hat die
höchste Quote der Kinderbetreuung in Deutschland, und dennoch die
geringste Geburtenziffer. Deutschland und Frankreich haben nahezu die
gleichen Raten der Erwerbsbeteilung von Frauen, und doch liegen die
Geburtenziffern so weit auseinander.
Ihr Modell
einer privaten Kinderrente würde deutliche gesellschaftliche
Veränderungen bewirken. Oder anders formuliert: Es erfordert eine
wesentlich stärkere familiäre Bindungsbereitschaft, als es dem Zeitgeist
entspricht, und läuft damit aktuellen Tendenzen zuwider. Erwarten Sie,
dass sich eine solche Kehrtwendung zu einer streckenweise fast
paternalistischen Sozialpolitik in absehbarer Zeit erreichen lässt?
Gunter Steinmann: Ich betrachte mein Konzept nicht als paternalistisch.
Ich plädiere nur für eine Teilreprivatisierung des sozialisierten
Sicherungsnutzens von Kindern und für eine Verbesserung des Status der
Eltern. Darüber hinaus glaube ich, dass der Zeitgeist der
Singularisierung uns nicht hilft. Die Singularisierung macht die
Menschen einsam und unglücklich und destabilisiert die Gesellschaft. Ich
hoffe und wünsche, besonders für unsere Kinder, dass die familiäre
Bindungsbereitschaft wächst. Niemand, und schon gar nicht der Staat,
kann uns in Notlagen so helfen und stützen wie die Familie.
Kritik an
diesem Modell könnte lauten, dass Kinder tendenziell wieder mehr zum
„Eigentum“ oder zur „Verfügungsmasse“ ihrer Eltern würden – mit allen
Folgen, die hierzulande aus der Vergangenheit oder heutzutage aus
anderen Kulturkreisen ohne modernes Rentensystem bekannt sind, etwa
Einschränkungsversuche der biographischen und beruflichen Wahlfreiheit
der Kinder durch die Eltern oder eine Bevorzugung von Söhnen gegenüber
Töchtern. Umgekehrt begeben sich alte Menschen wieder in eine deutlich
stärkere Abhängigkeit von ihren Nachkommen.
Gunter Steinmann: Wenn Sie mein Konzept mit dem Argument abqualifizieren,
dass es Kinder zum Eigentum ihrer Eltern mache, dann entgegne ich auf
der gleichen Argumentationslinie und bezeichne das gegenwärtige
Alterssicherungssystem als ein System, das Kinder zum Eigentum der
Rentenversicherung und fremder Rentner macht.
Dieser Artikel
sowie diesbezügliche Forumsdiskussion bei Telepolis
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Gunter
Steinmann: Kindermangel in Deutschland - Bevölkerungsökonomische
Analysen und familienpolitische Lösungen
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York,
Oxford, Wien, 2007. 150 S., ISBN 978-3-631-56857-6, 34.00 Euro