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BigBrother - originäres Kind der Spaßgesellschaft 

 

 

Haben wir die Tyrannei der Intimität verdient?

 

 

Von Christa Tamara Kaul      -      2003

 

Es war das Medienereignis der Jahre 2000 und 2001 und brachte die Gemüter mächtig in Wallung: die von dem Münchner Sender RTL2 ausgestrahlte Fernsehsendung BigBrother mit ihren diversen Staffeln. In ihrem Gefolge prasselten auf die Zuschauer weitere Produkte dieses Trends herab.

 

Sie hießen, „Insel-Duell“, „Geburtsstation“ (amerikan.), „Ich heirate einen Millionär“ oder „girlscamp“. Jede Menge sogenanntes Reality-TV, wie dieses  Sendeformat im Fachjargon heißt. Doch die Popularität und den kommerziellen Erfolg von BigBrother, vor allem der ersten Staffel, konnte keine Folgesendung erreichen. Selbst die im Frühjahr 2003 ausgestrahlte BigBrother-Neuauflage musste schon mit extrem viel (vor allem verbalem) Sexrummel aufwarten, um überhaupt noch ins Gespräch des observierenden Publikums zu kommen. 

 

Verletzung der Menschenwürde, der Neue Exhibitionismus, das Ende der Privatheit, Menschenzoo, TV-Knast, Big Gähn oder schlicht Deppenfernsehen, so ließ sich die Seite der Kritiker vernehmen. Riesenspaß, tolle Unterhaltung, Faszination des Alltäglichen oder vollgeiler Kult, so tönte die Seite der überwiegend sehr jungen und begeisterten Anhänger. Wenn ein Ereignis dermaßen viel Publizität erringen kann, dann hat es in irgendeiner Form einen Nerv der Zeit genau getroffen. Welcher Nerv bzw. welche Nerven aber sind hier bloßgelegt worden? 

 

Weder Zufall noch Medienkonstrukt aus dem Nichts

 

Jede Gesellschaft hat die Medien, die sie verdient, d.h. die sie widerspiegeln. War also die Erregung der Kritiker berechtigt, und, vor allem, traf sie mit der Schelte der „Medien“ die Richtigen? Oder wurde ein Sündenbock vorgeschoben, um anderweitige Ratlosigkeit zu kaschieren? Ist mit der Fernsehshow BigBrother tatsächlich irgendeine Grenze bisheriger Konventionen überschritten worden? Wie steht es um die gesellschaftlichen Verhaltensmuster und Voraussetzungen für diesen Quoten-Erfolg?

 

Drei Gruppen sind in dem Geschehen und in der öffentlichen Diskussion im Wesentlichen hervorgetreten: die Veranstalter, die Kritiker und die Anhänger bzw. positiv Interessierten. 

 

Die Veranstalter, also Produzent und Sender, sind als privatrechtliche Wirtschaftsunternehmen ihrem legitimen Ziel gefolgt, Geld zu verdienen, und dabei voll auf ihre Kosten gekommen. Mit einem großen Teil der unter Zwanzigjährigen haben sie genau die Hauptzielgruppe erreicht, die für ein Werbeumfeld zum kräftigen Absahnen gebraucht wird. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass sowohl in die Kassen der Produktionsfirma Endemol als auch in die von RTL2 insgesamt jeweils etwa 20 Millionen Mark Gewinn geflossen sind. 

 

Angetreten war BigBrother (BB) mit dem Anspruch, wirkliches Leben authentisch abzubilden, als eine Art Super-Reality-Show also oder eine Mega-Doku-Soap, deren Ausgangssituation die Abbildung der Realität durch die Realität selbst ist. Davon kann selbstverständlich nicht mehr die Rede sein, denn dass kaum etwas von dem Containergeschehen dem Zufall überlassen, sondern dass von Seiten der Produzenten kräftig, wenn auch sehr geschickt inszeniert wurde, steht mittlerweile außer Frage. Das hat aber erstens die Fans keineswegs abgeschreckt, wie der enorme Zulauf für die Fortsetzung zeigt, und war zweitens zwingend notwendig, um auf jeden Fall Langeweile zu verhindern. Das originäre Interesse von Produzent und Sender war und ist es, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, denn sie ist der Nährboden jeglichen Medienerfolges. Und hier liegt ein großes Problem der Sender. Denn in einer wohlhabenden Gesellschaft mit viel Freizeit und dem Drang, diese möglichst mit „viel Spaß“ zu verbringen, ergibt sich eine große Nachfrage nach Unterhaltung, der bei der stattlichen Gruppe konkurrierender, sich wirtschaftlich bis aufs Messer bekämpfender privatwirtschaftlicher Sender keineswegs genügend erfolgversprechende Produktionen zur Verfügung stehen.  Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer über längere Zeit zu binden, wird eine ständige Steigerung der Effekte notwendig. Dafür das Einverständnis der Teilnehmer zu erreichen, ist relativ leicht, da auch deren Hauptinteresse in dem Erringen von Aufmerksamkeit liegt. Und mit der Bereitstellung einer Plattform, die den Teilnehmern Aufmerksamkeit garantiert, lässt sich auf absehbare Zeit weiterhin viel Geld verdienen. 

 

Die Gruppe der mehr oder minder vehementen Kritiker zeichnete sich vornehmlich durch zwei Merkmale aus. So ziemlich alle weltanschaulichen und parteipolitischen Lager fanden sich erstens in ihrem Unmut vereint und zeigten zweitens etwa die gleiche eigenartige Hilflosigkeit der Argumentation. Befürchtungen um die Menschenwürde und sogar die Grundrechte sowie massive Bedenken hinsichtlich der noch unabsehbaren Folgeentwicklungen wurden ins Feld geführt und versackten im nebulösen Verbalgroll. Das große Unbehagen an dem Persönlichkeits-Striptease im TV-Container vermochte keine justiziablen Tatbestände anführen und suchte dann oft Zuflucht in so schwammigen Wortverhauen wie „intersubjektive Menschenwürde“

 

Doch wer fühlte sich denn von den Teilnehmern, den etwa 5 Millionen Fernsehzuschauern (überwiegend Leute unter 38 Jahren, besonders viele in der Altersgruppe zwischen 12 und 16 Jahren) und der noch deutlich größeren Gruppe der an den Diskussionen Beteiligten in seiner Menschenwürde verletzt? Weder das Fernsehen noch irgendein anderes Medium kann aus dem Nichts erfolgreiche Trends generieren. Das Medium muss vielmehr allgemeine Strömungen und Neigungen des Publikums schon vorfinden, um auf dieser Basis publikumswirksame, d.h. quotenträchtige Sendeformate und Inhalte produzieren und damit Gewinn machen zu können. Welche Strömungen traten hier also an die sichtbare Oberfläche?

Eine Untersuchung mit tiefenpsychologischen Anspruch ergab, dass die Zuschauerbedürfnisse mehrfach bedient wurden. Zunächst versprachen sie sich von BB eine quasi göttliche Position (Der liebe Gott sieht alles!), aus der sie sonst verborgene Skandale und Perversionen beobachten zu können hofften. Diese Erwartung wurde nicht erfüllt, doch stattdessen eröffnete das Fernseh-Ereignis den Blick auf einen banalen Alltag, von dem eine zunehmende Faszination ausging: Demnach befriedigte BB eine wachsende Sehnsucht der Menschen, das alltägliche Leben wiederzuentdecken. Diese Faszination zeige auf, so die Untersuchung, wie sehr die Medien-Gesellschaft ein unmittelbares und ganz normales Alltagsleben verloren habe: Die Zuschauer nutzen BigBrother, um durch die Beobachtung des Gruppenschicksals eigene Grundfragen des sozialen Zusammenlebens in allen Harmonie- und Krisenwendungen durchzuspielen. Dabei gingen sie vor wie Kinder mit ihrer Puppenstube. Sie genossen die (wirklichen oder nur vermeintlichen) Eingriffsmöglichkeiten in das Schicksal der Figuren und deklinierten mit ihnen den banalen Koch-, Putz-, Dusch- und Gammelalltag durch. Sie spielten Vater, Mutter, Kind und überprüften anhand der beobachtbaren Gruppendynamik eigene Beziehungsmuster, das eigene Rollenverhalten und persönliche Konfliktstrategien. Big Brother war daher nicht nur ein TV-Ereignis, das sich lediglich passiv vor dem Bildschirm abspielte. Es hatte den Charakter eines kollektiven Gesellschafts- und Psycho-Spiels: Die gesellschaftliche Beteiligungsquote war dabei weitaus höher als die Einschaltquote. 

 

Tyrannei der Intimität

 

Auf der Suche nach den Wurzeln des zuvor beschriebenen Verhaltens bieten sich gesellschaftliche Erklärungsmuster der Soziologie an, allen voran die des amerikanischen  Soziologen Richard Sennett, Jahrgang 1943, des Briten Anthony Giddens, Jahrgang 1938 und Berater von Tony Blair, sowie der deutschen Soziologen Ulrich Beck und Florian Rötzer. Zu den Schlüsselwörtern der Erklärungsmodelle heutiger Gesellschaften zählen vorrangig die Begriffe Verfall der Öffentlichkeit, Privatheit, Intimität, Schamverlust, Enttabuisierung und Individualisierung, aber auch Aufmerksamkeit

 

 „Cogito ergo sum“, so hieß es früher einmal, heute gilt zunehmend: „Ich errege Aufmerksamkeit, also bin ich“. Wem Tausende oder gar Millionen zuschauen, und sei es um den Preis dem kompletten Entblödung, der kann nicht bedeutungslos sein. Warum ist heute Aufmerksamkeit ein so begehrtes Gut, und zwar für den Einzelnen und jenseits der zuvor schon erwähnten rein kommerziellen Gründe? 

 

Weil Aufmerksamkeit in der sogenannten Wissensgesellschaft den Wert besitzt, der früher Rohstoffen zukam, sagt Florian Rötzer mit Bezug auf verschiedene amerikanische Apologeten der Cyberkultur, denn das grundlegende ökonomische Modell, wie Wert erzeugt wird, habe sich tiefgreifend verändert. Aufmerksamkeit ist die Währung einer Informationsökonomie, so die Aussage, denn bei Informationen bestehe, anders als bei Rohstoffen oder Produkten in der Industriegesellschaft, keine Verbindung zwischen Knappheit und Wert, sondern zwischen Bekanntheit und Wert. Es reiche weder für einen ideellen noch erst recht nicht für einen kommerziellen Erfolg aus, irgendetwas zu publizieren, also öffentlich zu machen, erst die Beachtung bestimme den Wert.  Da aber Aufmerksamkeit nur in der Öffentlichkeit  errungen werden kann, sind die zwei Parameter Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit  untrennbar verbunden. 

Öffentlichkeit galt bislang als Paradigma für den nicht privaten Raum. Diese Bedeutung hat sich inzwischen weitgehend verändert. Doch das ist keineswegs eine kurzfristig eingetretene Erscheinung.  Richard Sennett sieht den Niedergang der öffentlichen Kultur und den Wandel des Intimen zum Öffentlichen bereits am Übergang des 18. zum 19. Jahrhunderts einsetzen. Der Wandel von der Erotik zur Sexualität vollzog sich dann im 20. Jahrhundert. 

 

Öffentlichkeit und Privatheit sind für Sennett zwei gesellschaftliche Bereiche, deren Funktion und Leistung sich gegenseitig ausbalancieren müssen. Dabei steht die Öffentlichkeit für Zivilisation und das Männliche, das Private wird der Natur und dem Weiblichen zugeordnet. Im 18. Jahrhundert bestand, so die These, ein Ausgleich zwischen den beiden Bereiche, der im 19. Jahrhundert ins Wanken geriet und im 20. zerstört wurde. Wenn aber dieses Gleichgewicht verloren geht, dann geraten beide, Öffentlichkeit wie Privatheit, in eine Krise. Diese ist das Kennzeichen der gegenwärtigen Situation. Es muss hier genügen, nur einige weitere Schlussfolgerungen zu erwähnen. Und die besagen, dass Entwicklungen wie der Kapitalismus, die industrielle Entwicklung mit der Verstädterung sowie eine veränderte Stellung von Religion und Kirche zur „Erfindung der Persönlichkeit“ geführt haben, die dann durch die Prüderie des Viktiorianismus   mannigfachen Zwängen unterworden wurde, aus denen sie sich nach und nach befreite. In diesem Kontext erringt die Psychoanalyse ihre bedeutungsvolle Position. Sexualität und intime Bekenntnisse gehören zur emotionalen Selbsterkundung und Verwirklichung. Das eigene Selbst ist die Brille, durch die die Außenwelt wahrgenommen und vor allem bewertet wird. Der Blick auf die Gesellschaft kann sich nicht mehr vom Blick auf das Selbst lösen. Diesen Blickwinkel nennt Sennett eine „intime Sichtweise“. Und die intime Gesellschaft liegt, sarkastisch formuliert, ständig auf der Couch einer in unterschiedlichen Gewändern auftretenden Psychotherapie. Doch selbst diese Form der Intimität geht zum Ende des 20. Jahrhundert verloren oder, richtiger, wandelt sich, indem bis dahin im gesellschaftlichen Konsens errichtete Tabus obsolet werden. Dabei kommt es gleichermaßen zum Tabubruch wie zum Tabuverzicht.

 

Menschliche Wärme ist unser Gott nach dem Verlust der Transzendenz,  - und diesem Gott opfern wir letztlich unsere Intimität. Denn menschliche Nähe soll durch grenzen- und schrankenlose Offenheit  erzielt werden..

Sehr verkürzt erklären also zeitgenössische Soziologen die heutige Dominanz des Intimen und Privaten im ehemals öffentlichen Bereich als Verschiebungen gesellschaftlicher Konventionen und Verhaltensweisen, die schon im vorletzten Jahrhundert ausgelöst worden sind, und zwar vorrangig durch den Kapitalismus sowie durch Säkularisierung und Stadtentwicklung. Das Selbst hat sich zunehmend an die Stelle der Gemeinschaft und damit des Öffentlichen gesetzt. Sexualität hat in dieser Entwicklung ihre soziale Dimension eingebüßt. Sie dient vielmehr als Metapher für grundlegende Veränderungen, insbesondere für eine Neustrukturierung zwischenmenschlicher Beziehungen und steht deshalb im Mittelpunkt des Interesses. Wobei besonders Giddens die Frauen als Hauptträgerinnen der sexuellen Emanzipation sieht

Ein bemerkenswertes Fazit ziehen Soziologen hinsichtlich aktueller Tabuverluste bzw. -brüche. Die große Angst der Menschen des 19. Jahrhunderts lag darin, ein Tabu zu verletzen. Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es nicht nur einen großen Tabuverlust, sondern die Menschen scheinen die noch verbliebenen Tabus mit dem größten Vergnügen zu brechen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch: Was wie ein Tabubruch aussieht, ist in Wirklichkeit eine angestrengte Suche nach Tabus, nach Grenzen, die es ermöglichen sollen, eine neue Identität aufgrund der gesellschaftlichen Umstrukturierung auszubilden. Und dies alles dient dem Ziel, das große Tabu des 20. Jahrhunderts nicht zu verletzen. Das unausgesprochene Tabu unserer Gesellschaft, so Sennett, ist das Scheitern. Alles ist erlaubt, aber nicht das Scheitern.

 

Jede Gesellschaft hat die Medien, die sie verdient, d.h. die sie widerspiegeln . Insofern kann BigBrother nur als hilfreich angesehen werden, da durch diese Sendung sehr zugespitzt undymptomatisch eine schon länger zu beobachtende, zunächst paradox wirkende Entwicklung unserer Gesellschaft beispielhaft vorgeführt und damit klarer wurde. Einerseits ziehen sich gerade junge Menschen immer stärker aus der Öffentlichkeit, verstanden als solidarische, institutionalisierte Gemeinschaft, in die Privatheit zurück, wobei die Individualisierung oft bis zur Entsolidarisierung gesteigert wird. Andererseits verliert die Privatheit immer mehr ihren ursprünglichen Charakter, da eben Intimität zunehmend öffentlich gemacht wird

Das entbindet allerdings niemanden, auch bei den Mediengestaltern nicht, Menschenwürde und demokratische Ordnung zu achten und sich für deren Erhalt mitverantwortlich zu fühlen. Demgemäss sollten die Medien es zu einer ihrer Aufgaben machen, an einem demokratischen und würdevollen Umgang mit dem Privaten und Intimen mitzuwirken. Wenn die zuvor zitierten Soziologen mit ihrer These Recht haben, dass mit der zunehmenden Privatheit der Öffentlichkeit sich eine weibliche Qualität der Sozialisation in den Vordergrund geschoben hat, so müsste die stringente Folgerung sein, dass Frauen auch besonders berufen und befähigt sind, an dieser Aufgabe mitzuwirken.

 

 

 Zu diesem Thema ist auf Anfrage ein ausführlicher Vortragstext erhältlich.

 

 

Ein empfehlenswertes Buch zum Thema: 

F. Herrmann / M. Lünenborg: Tabubruch als Programm 

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul