Peter Sloterdijk: Zorn und
Zeit
Die verkannten Triebkräfte des Zorns
und die sie
zähmenden Balanceübungen
Christa
Tamara Kaul - 2006
Welche menschlichen Kräfte haben die Geschichte, vor allem die
westliche, vorrangig bewegt? Das untersucht der Philosoph und Kulturwissenschaftler
Peter Sloterdijk in diesem Buch und
stößt dabei auf den Zorn als einem der wichtigsten Triebmittel.
Im Gegensatz
zur Liebe, dem anderen starken Grundelement menschlichen Handelns, dem
nur gute, lebensfördernde und sinnstiftende Resultate zuerkannt werden,
wird dem Zorn ausschließlich Ver- und Zerstörendes zugeteilt, das sich
als Hass, Aggression, Kampf und Gewalt äußert. Doch das kann nach
Sloterdijk so nicht stehen bleiben, denn auch dem Zorn, den man im
antiken Griechenland im thymós, was sich mit Gemüt übersetzen lässt,
angesiedelt sah, müssen ganz wesentliche und ursprüngliche Impulse und
Ergebnisse geschichtlicher Entwicklung zugestanden werden.
Um sein Gedankengebäude griffig darstellen zu können, führt Sloterdijk
dafür eigens neue Wörter ein, und zwar „thymotisch“ und „Thymotik“ als
Analogien zu „erotisch“ und „Erotik“, den Begriffen aus dem Bereich der
anderen menschlichen Urkraft, der Liebe bzw. Sexualität. Vor allem geht
es ihm darum nachweisen, dass Wissenschaftler der jüngeren
Vergangenheit, allen voran Sigmund Freud, den Menschen zu Unrecht
einseitig als erotisch bzw. sexuell getriebenes und kaum als
thymotisches Wesen gedeutet haben. Er beschreibt, von dieser Basis
ausgehend, die großen "Zorninstitutionen" der westlichen Geschichte, die
er zunächst in den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und
Islam sieht. Die Reihe wird fortgeführt mit Zorn-Ideologien der
Aufklärung, etwa dem Freiheitskult der Französischen Revolution mit
seinem Lieblingsinstrument Guillotine und dem Eroberungswahn Napoleons,
sowie Zorn-Systemen des 20. Jahrhunderts, etwa dem des Kommunismus.
Bezeichnend für alle erscheint ihm eine krankhaft-gekränkte
Verfasstheit, aus deren grundlegendem Beleidigtsein metaphysische und
post-metaphysische Ideologien voll chronisch gewordenen Hasses gegen
alles und jeden erwuchsen. Zwar würdigt Sloterdijk den
alttestamentarischen Gerechtigkeitsgedanken ebenso wie das
neutestamentliche jesuanische Liebesgebot. Dennoch sieht er in den
Droharsenalen des Monotheismus mit seiner prophetischen Apokalyptik
einschließlich des Höllenstrafsystems kritikwürdige Elemente. Erst recht
gilt das für die diversen Links- und Rechts-Faschismen des 20.
Jahrhunderts. Allerdings erkennt Sloterdijk nun Licht am Ende des
Zorntunnels, da er den Bankrott der großen Zornorganisationen gekommen
sieht. Die derzeitige Neuauflage des Islam mit seinen "Zorneinlagen" und
"Zornobligationen" sei nichts weiter als ein provinzielles
Possennachspiel, ein Medienspektakel von schlechten Verlierern der
Geschichte. Große Politik geschehe heute ausschließlich noch im „Modus
von Balanceübungen“, die endlich eine "Weltkultur", die ihren Namen
verdiene, erhoffen lasse. Selbst bei Einwänden gegen etliche
Schlussfolgerungen Sloterdijks – ein überaus anregendes, lesenswertes Buch.
Peter
Sloterdijk: Zorn und Zeit -
Politisch-psychologischer Versuch, Suhrkamp Verlag, 2006,
22,80 Euro,
ISBN 978-3-518-41840-6