Er kann alles – außer Papst?
Benedikt – Die Krise eines Pontifikats nach Politi
Christa Tamara Kaul -
Januar 2013
Joseph
Ratzinger – ein ebenso bescheidener Mensch wie brillanter
Intellektueller, tiefgründiger Prediger und scharfsinniger
Analytiker, einer, der so ziemlich alles kann – außer Papst. Das
ist die ultrakurze Zusammenfassung des Urteils, zu dem Marco Politi in seinem aktuellen Buch über Papst Benedikt XVI. kommt.
Denn, so Politi, seit Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde,
häufen sich die Pannen und Skandale des Vatikans und das
„katholische Weltreich“ taumelt unter seiner Führung “von einer
Krise zur nächsten“.
Dem ersten Kapitel, das dem Beginn des Pontifikats von Benedikt
XVI. im Jahr 2005 gewidmet ist, gibt Politi den Titel „Ein Jahr
der Gnade“. Was dem Empfinden einer großen Mehrheit entsprach.
Es wurde in Deutschland eingeläutet mit dem Slogan der
Bild-Zeitung "Wir sind Papst" und erreichte einen grandiosen
Höhepunkt beim Weltjugendtag in Köln. Eine geradezu euphorische
Stimmung erfasste „viele Landsleute des damals 78 Jahre alten
Theologen“, beschreibt es Politi, „nach der Wiedervereinigung
nun auch noch Papst! Ein Volk ist stolz“. In der Tat zollten ihm
selbst skeptische und eher kirchenferne Menschen und Medien,
etwa die tageszeitung in Berlin, nach anfänglicher Ablehnung
seiner Wahl bald voller Erstaunen hohen Respekt, sogar
emphatisches Lob dafür, dass Joseph Ratzinger sich als Benedikt
XVI. „selbst neu erfunden“ habe.
Von der Gnade zum Piusbrüder-Debakel
Doch das sollte sich bald ändern, auch und gerade in
Deutschland. Denn im Heimatland des Papstes wird sein Wirken
besonders umfassend und penibel zur Kenntnis genommen. Und daher
sieht (nicht nur) Politi das Verhältnis des Papstes zu den
Gläubigen in seinem Heimatland als "Prüfstein für sein
Pontifikat“ und Deutschland als den „Brennspiegel für Benedikts
ungelöste Probleme“. Und diese Probleme treten immer öfter
zutage und schlagen spätestens 2009 mit der „Begnadigung“ von
vier zu den Pius-Brüdern gehörenden Bischöfen samt der
„Williamson-Affäre“ mit voller Wucht in der Öffentlichkeit auf.
Die Stimmung kippt. Gerade viele Deutsche bescheinigen ihm nun,
dass der „bescheidene Weinberg-Arbeiter des Herrn“ in Wahrheit
genau der knallharte, autoritär-konservative Mann ist, als der
er vielen auch vorher schon galt. So scheint der unfassend
gebildete, vielsprachige Dogmatiker kaum eine Notwendigkeit für
Reformen in seiner Kirche zu sehen, schon gar nicht die
Möglichkeit einer demokratischen Teilhabe von Laien und Frauen
an den Entscheidungen der weltweiten Glaubensgemeinschaft. Von
der Akzeptanz homosexueller Veranlagung ganz zu schweigen.
Stattdessen, meint Politi, sieht der Papst im reinen, tiefen
Glauben und frommen Gehorsam gegenüber der offiziellen Lehre
auch weiterhin die Zukunft der Weltkirche. Denn, so Ratzinger,
"die Kirche Christi ist keine Partei, keine Vereinigung, kein
Club; ihre tiefe und unaufhebbare Struktur ist nicht
demokratisch, sondern sakramental, folglich hierarchisch". Und
das heißt, ihre Autorität "gründet sich nicht auf
Mehrheitsvoten; sie gründet sich auf die Autorität Christi
selbst".
Der Autor beschreibt penibel detailliert, wie gerade auf
deutscher Seite die kritischen Stimmen immer lauter und
radikaler werden. Dabei argumentieren diejenigen, die weitere
Reformen gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil, also eine
teilweise Kursänderung der Katholischen Kirche fordern, darunter
auch Kirchenmänner wie die Kardinäle Karl Lehmann und Walter
Kasper, ausgewogen und sachlich. Kommentare von deutschen
Politikern klingen schon schärfer. Und die Anschuldigungen von
kirchenfernen Kritikern werden zunehmend unverhältnismäßig und
geradezu schrill, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass selbst
die „Neue Züricher Zeitung“, nicht unbedingt als Vatikan-Blatt
bekannt, sich zu einer Verteidigung des Papstes genötigt sieht
und vielen Kritikern „aggressive Ahnungslosigkeit“ bescheinigt.
Was aber beispielsweise von Marco Politi nicht erwähnt wird.
Stattdessen beschreibt er ausführlich die Reaktion Benedikts auf
die ihm entgegenschlagende Welle vehementer Vorwürfe. Der sucht
offenbar weniger nach den Motiven des Aufruhrs, teilweise auch
innerhalb der Kirche, sondern zeigt sich persönlich tief
verletzt und völlig missverstanden. Was sich in seinem Brief vom
10. März 2009 an alle Bischöfe der Weltkirche niederschlägt, in
dem er unter anderem schreibt: „Betrübt hat mich, dass auch
Katholiken, die es eigentlich besser wissen konnten, mit
sprungbereiter Feindseligkeit auf mich einschlagen zu müssen
glaubten.“
Unbestreitbar hat das Pius-Brüder-Debakel die Kluft zwischen
jenen, die die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils
ungeschmälert erhalten und fortführen wollen, und jenen, die am
liebsten hinter diese Öffnung zur Welt zurückkehren möchten,
sichtbarer und noch schwerer überwindbar gemacht.
Regensburger Rede, Kondomdebatte, Missbrauchsfälle und eine
neue Konzilshermeneutik
Akribisch und faktengestützt legt Marco Politi nicht nur die
Details des Pius-Brüder-Debakels dar, sondern auch alle anderen
bekannten Krisensituationen – etwa die zuvor im Jahr 2006 in der
islamischen Welt aufbrandende Entrüstung über die Regensburger
Rede, die Proteste gegen den päpstlichen Standpunkt zum
Kondomgebrauch, die Aufdeckung der nahezu unglaublichen,
weltweiten Fälle von Missbrauch im innerkirchlichen Bereich und
zuletzt die „Vatileaks-Affäre“. Allen Krisensituationen ist
leider fast durchgängig gemein, dass Papst und Kurie die
Angelegenheiten unangemessen handhaben. Die zunächst geäußerten
Verlautbarungen mussten jeweils erklärt, interpretiert und nicht
selten teilweise auch revidiert werden.
Darin offenbare sich das Problem, meint Politi, dass Benedikt
kein Fingerspitzengefühl für das Regieren hat. Ein Papst dürfe
nie nur eine rein spirituelle oder intellektuelle Persönlichkeit
sein. Er müsse auf gewisse Weise auch immer Politiker sein, um
diesen Riesenorganismus Weltkirche mit mehr als einer Milliarde
Gläubigen leiten, reformieren und ihn mit der Welt interagieren
lassen zu können. Diese Dimension fehle Benedikt XVI. und
deshalb hätten unter seiner Leitung Präsenz und Einfluss des
Heiligen Stuhles in der Weltpolitik abgenommen.
Der Autor breitet sein profundes Insider-Wissen über die Welt
des Vatikans und den deutschen Papst detailliert aus und
beleuchtet etliche eher unzugängliche Winkel der Führungsebene
der katholischen Weltkirche. Dabei macht er keinen Hehl daraus,
dass er im deutschen Papst einen der Vergangenheit zugewandten
Weltfremden sieht, der der Zukunft der Kirche trotz seiner hohen
Intellektualität und innigen Gläubigkeit nicht gut tut. Was –
unabhängig von der Gültigkeit oder Ungültigkeit dieses Urteils –
im Umschlagsbild des Buches hervorragend visualisiert ist.
Wenn Urteile Glaubenssache werden
Doch Politi legt eben nicht nur Fakten „auf den Tisch“, sondern
zieht durchgehend Schlüsse daraus, fällt Urteile. Und die sind –
jedenfalls teilweise – anfechtbar oder sogar falsch.
Etwa wenn er als Fazit der Regensburger Rede resümiert: „In
Regensburg ging in einer Stunde alles zu Bruch, was Johannes
Paul II. in 20 Jahren gegenüber dem Islam aufgebaut hatte.“ Es
fällt nicht nur auf, dass hier wie im gesamten Buch Johannes
Paul II. mehr oder minder sakrosankt überhöht wird, sondern dass
auch die Gewichtung der Ereignisse sehr speziell ist. So wird
der Brief, den über hundert muslimische Gelehrte als Reaktion
auf die Regensburger Rede an Benedikt XVI. schrieben, nur ganz
nebensächlich erwähnt, obwohl gerade dieses Schreiben ein Beleg
dafür ist, dass durch die kritisierten Zitate der
Papst-Vorlesung erstmals eine ernsthafte theologische
Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Muslimen in Gang kam.
Was bei aller Wertschätzung der durch Johannes Paul II.
eingeleiteten Begegnungen zwischen Vertretern der großen
Weltreligionen zuvor so nicht der Fall gewesen ist.
Oder etwa wenn Politi zu dem Schluss kommt, dass das
Kirchenoberhaupt einen Keil in die Masse der Gläubigen treibt.
„Seine Entscheidungen spalten, und seine Kurie – so wie er sie
gestaltet hat – ist nicht in der Lage, ihm beizustehen bei den
Stürmen, die er selbst ausgelöst hat.“
Bei all diesen Urteilen bleibt unter anderem durchgängig unerwähnt, dass
nahezu alle Problemkomplexe ihre lange Zeit unentdeckten oder
verschwiegenen Ursachen und Anfänge in der Zeit vor dem
Pontifikat des heutigen Papstes haben. Vieles wurzelt in der
Zeit Johannes Paul II., etwa die Vertuschung der kirchlichen
Missbrauchsfälle. Aufgerollt aber werden sie im Pontifikat
Benedikts und bleiben sozusagen an ihm kleben. Selbst der
unzulängliche Umgang mit diesen Problemkomplexen beruht in nicht
geringem Maß auf den noch von Wojtyla installierten
Kurienstrukturen. Was auch Politi indirekt bestätigt, wenn er
auf den immens „raumgreifenden“ „polnischen Clan“ verweist, dem
Benedikt nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hat, da er kein
Freund von „nationalen Seilschaften“ sei. Zusammen mit dem in
Jahrhunderten gewachsenen Filz des italienischen Kurienklerus
bilden die verbliebenen Strukturen des „polnischen Clans“ ein
vielfach schwer durchdringliches Geflecht.
In eine Wertung muss auch der immense Altersunterschied bei
Amtsantritt von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. einbezogen
werden. Es ist zwar Spekulation, aber doch zu vermuten, dass
Josef Ratzinger ein vitaleres Vatikan-Management hätte führen
können, wenn sein Vorgänger zu dem Zeitpunkt zurückgetreten und
den Weg für einen Nachfolger frei gemacht hätte, zu dem er ganz
offensichtlich amtsunfähig wurde – also fast zehn Jahre früher.
„Die Führung der Universalkirche im Alter von beinahe 80 Jahren
zu übernehmen, ist eine anstrengende Aufgabe.“ Daraus hat
Ratzinger nie ein Hehl gemacht.
Und er ist sich der herrschenden Differenzen wohl durchaus
bewusst. Denn er betont auch immer wieder, wie wichtig es
ihm ist, dass Christen allgemein und Bischöfe im Besonderen
„Mut zum Widerspruch gegen die herrschenden Orientierungen“
haben. Wer den Glauben der Kirche
lebe und verkünde, stehe in vielen Punkten quer zu den
herrschenden Meinungen gerade auch in unserer Zeit. Was ganz
offensichtlich bedeutet, dass er derzeit eine Klärung und
Verdeutlichung der Glaubensinhalte, also des Innersten der
Kirche, für wichtiger erachtet als die bloße Außenwirkung.
Insofern offenbart sich hier schon ein gewisser durchaus
bewusster Unterschied zu seinem Vorgänger im Hinblick auf das
Amtverständnis und wohl auch in der Zielrichtung, die er
"seiner" Kirche weist.
Doch trotz der partiellen Einwände gegen Politis Konklusionen steht außer Frage: Selbst wenn nicht
alle Fakten neu oder unbekannt sind, so ist allein die minutiöse
Auflistung der Umstände, die zu den markanten Ereignissen der
letzten Jahre geführt oder diese ausgelöst haben, ein Wert an
sich, eine historisch sinnvolle Materialsammlung und
Aufarbeitung. Das allerdings heißt nicht, dass alle von Politi
daraus abgeleiteten Schlüsse zwingend sind und sein Gesamturteil
Person und Sache objektiv gerecht wird. Denn auch das ist
tatsächlich eine „Glaubensfrage“, die je nach persönlicher
Verortung im eher konservativen oder im eher dem Zweiten Vatikanichen Konzil zugeneigten, reformfreudig liberalen Lager,
zum anderen aber auch bei der jeweils persönlichen Gewichtung
von "reiner Lehre" und "guter Außenwirkung"
unterschiedlich ausfallen wird. Lesenswert ist es schon deshalb,
um das persönliche Urteil, den jeweils eigenen Standpunkt
überprüfen und justieren zu können.
Marco Politi: Benedikt – Krise eines Pontifikats
Rotbuch Verlag, 2012, 540 S., 19,99 Euro, ISBN 978-3-86789-171-4
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Marco Politi, 1947 in Rom geboren, hat 20 Jahre lang für "La
Repubblica", eine der führenden italienischen Tageszeitungen,
über die Vorgänge im Vatikan berichtet. Er gilt als
ausgefuchster Vatikan-Insider, der sich über Jahrzehnte viele
Kontakte zu den zahlreichen Zirkeln und Seilschaften des
Vatikans aufgebaut und damit ein umfangreiche, detaillierte
Kenntnis angeeignet hat.