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Opfer, Kult und
Seelsorge
Nur das, was
sich ändern kann, lebt!
Von Christa
Tamara Kaul - September 2022
Nahezu alle alten Kulturen weltweit kannten
den Opfergedanken und pflegten Opferrituale.
Durch die Darbringung eines unschuldigen, also
„reinen“ Opfers sollte Unheil von einer
Gemeinschaft abwendet werden. So wurde auch in
Israel bis zum Jahr 70 n.Chr., also bis zur
Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem, der
Gottheit täglich ein Schlachtopfer dargebracht.
Eine Zeremonie, die auch Jesus von Nazareth
zweifellos vertraut war.
Was aber führte in fast allen alten Kulturen
zu Opferritualen? Und zwar offenbar ohne
jegliche Gewissenszweifel. Wissenschaftler
verschiedener Disziplinen sind überwiegend der
Ansicht, dass es zunächst um die Abwendung von
Gewalt innerhalb einer Gruppe oder
Volksgemeinschaft ging. Denn nichts fürchteten
die Menschen damals wohl mehr als Gewalttaten
innerhalb ihrer Gemeinschaft, mehr als alle
Auseinandersetzungen und Kriege mit anderen
Gruppen. Nach Verletzung des inneren Friedens
durch Gewaltanwendung oder gar durch eine
Bluttat sollte dies durch eine „Gegengewalt“
gesühnt und damit weiteres Unheil gebannt
werden. Im Laufe der Zeit wurde die
ritualisierte Gewaltwiederholung zum Opferkult
ausgebaut und auch als Sühneopfer gegenüber
höheren Mächten etabliert. Wobei dafür bestimmte
„heilige“ Orte festgelegt und ausgewählte
Personen zum Vollzug ermächtigt wurden. Indem
die Gewalt in festgelegte Grenzen verwiesen war,
verschaffte das der Gemeinschaft ein Gefühl
größerer Sicherheit.

Abb.: Johanes
Vianey Lein – pfarrbriefservice
Was ursprünglich mehr oder minder
selbstverständlich war, gilt heute als mehr oder
minder anstößig: Das Opfer ist ein schwer
verständliches Phänomen in Religion und Kultur.
Zwar versteht sich das Christentum als
endgültiger Überwinder heidnischer Opferkulte,
dennoch blieb und bleibt das „Opfer“ in
Theologie und Praxis präsent – und ambivalent.
Mit Jesus stand am Anfang ein Jude, in dem trotz
seines Foltertodes an einem römischen Kreuz eine
Gruppe jüdischer Jünger und Jüngerinnen den
Messias und Erlöser sah. Und die sah in seinen
Tod auch eine Analogie zu dem vertrauten Ritual
des Versöhnungsfestes „Jom Kippur“, bei dem die
Sünden des Volkes symbolisch einem Bock auf die
Schultern geladen wurden. Dieser wurde
anschließend in die Wüste gejagt, wo er starb
und die Sünden des Volkes, so der Glaube, mit in
den Tod nahm.
Doch auch wenn bis heute vom Sühnetod Christi
gesprochen wird, so ging es im frühen
Christentum nicht darum, diesen Sühnetod als
Kult zu zelebrieren. Vielmehr wurde Jesu Leben
und Tod vor allem als Vorbild gottgefälligen
Verhaltens verstanden und herausgestellt. So
schreibt etwa Petrus in seinem 1. Brief: „Lasst
euch als lebendige Steine zu einem geistigen
Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft,
um durch Jesus Christus geistige Opfer
darzubringen, die Gott gefallen. Führt unter den
Heiden ein rechtschaffenes Leben, damit sie, die
euch jetzt als Übeltäter verleumden, durch eure
guten Taten zur Einsicht kommen und Gott preisen
am Tag der Heimsuchung. Denn es ist der Wille
Gottes, dass ihr durch eure guten Taten die
Unwissenheit unverständiger Menschen zum
Schweigen bringt.“
Mit der „Revolution des geistigen Opfers“
(Arnold E. Angenendt) als Einsatz und
Selbsthingabe für andere setzte sich im
Christentum damit eine neue Sichtweise durch.
Und beendete ausdrücklich die herkömmlichen
Opfer(-Rituale). Es geht nicht mehr um ein
reines „do ut des“ (Ich gebe, damit du
[=Gottheit] gibst). „Messopfer sind also nicht
als menschliche Leistungen zur Umstimmung“
Gottes zu verstehen. Sondern als Ausdruck von
Dank an Gott für das von Jesus erbrachte
Beispiel und Vorbild, wie der Wille Gottes zu
erfüllen sei. Ein kultischer Charakter dieser
Dankesfeiern war, wie Exegeten der Urtexte
meinen, dem frühen, ursprünglichen Christentum
eher fremd, nicht zuletzt aufgrund des sich
damals wandelnden „Zeitgeistes“.
Der Weg von der Kultreligion hin zur
Seelsorgereligion und zurück: „Um die
Zeitenwende setzte in den Religionen der
Spätantike ein tiefgreifender Umbruch ein“, so
der alttestamentliche Bibelwissenschafter Ludger Schwienhorst-Schönberger. Was wohl auch mit der
Zerstörung des zweiten Tempels von Jerusalem im
Jahr 70 n.Chr. zusammenhing, nach der sich das
Judentum „innerhalb kurzer Zeit als eine
Religion ohne Blut und Opfer neu erfinden“
musste. „Die Entstehung des Christentums
erfolgte im Spannungsfeld dieses tiefgreifenden
Transformationsprozesses“ der Spätantike. Einige
Wissenschaftler sind sogar davon überzeugt, dass
das Christentum zunächst eine ganz bewusst
anti-kultische Bewegung war, die sich als
Seelsorgegemeinschaft verstand und voll dem
damals neuen Religionstyp entsprach.
Ganz sicher war Jesus kein Priester – und
auch die ersten Jünger und Apostel waren es
nicht. Jedenfalls nicht im damals
herkömmlichen Sinn. Selbst wenn Paulus im
Römerbrief sein Amt als „priesterlichen Dienst“
am Evangelium umschreibt, welches auf Gott
wohlgefällige „Opfer der Nationen“ hinzielt, so
hat das keine kultische Bedeutung. Im Gegenteil,
die Beziehung von Jesus und seinen Jüngern zu
den jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäern
war – vorsichtig ausgedrückt – angespannt. Zumal
es der Hohepriester war, der maßgeblich das über
Jesus verhängte Todesurteil bewirkte. An diesem
Status ändern auch einige Stellen im
Hebräerbrief nichts, dem Teil des Neuen
Testaments (NT), der wohl am weitesten auf die
Opferthematik eingeht. Dort wird einerseits
Jesus als „Hohepriester nach der Ordnung des
Melchisedeck“ tituliert, eines im Alten
Testament erwähnten Königs, der als erster Brot
und Wein als Opfer darbrachte. Andererseits
räumt Paulus kritisch mit dem jüdischen
Tempelkult auf. Auch wenn aufgrund der nicht
genau festzulegenden Entstehungszeit dieses
Textes – ob er kurz vor oder nach der Zerstörung
Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. entstand – die
Interpretation der Exegeten nicht einheitlich
ausfällt, so ist zumindest die Aussage sicher,
dass durch Jesu Leben und Tod der bis dahin
übliche Opferkult obsolet geworden ist.
Ganz sicher war und ist auch der Zölibat,
also die Ehelosigkeit der Gemeindevorsteher
(später Priester), im Neuen Testament ein
angestrebtes Ziel, aber keine Verpflichtung. So
schreibt Paulus im 1. Korinther-Brief: "Ich
wünschte, alle Menschen wären (unverheiratet)
wie ich. Doch jeder hat seine eigene Gnadengabe
von Gott, der eine so, der andere so. … Was aber
die Unverheirateten betrifft, so habe ich kein
Gebot vom Herrn. Ich gebe euch nur einen Rat als
einer, den der Herr durch sein Erbarmen
vertrauenswürdig gemacht hat."
Doch etwa ab dem 3. Jahrhundert fand im
römischen Einflussbereich ein erneuter
kultureller Wandel statt, und zwar zurück zu einer allgemeinen Rekultisierung. Nun entwickelten sich
auch im jungen Christentum die
gottesdienstlichen Zusammenkünfte immer mehr zu
ritualisierten Zeremonien und die
Gemeindevorsteher zu Priestern. Es war jetzt
seltener der Tisch (mensa), um den herum sich
die Gemeinde versammelte, sondern zunehmend ein
Altar (alter ara = der hohe Altar), vor dem ein
Priester, mit dem Gesicht zum Altar, also zu
Gott, und der Gemeinde im Rücken, das
„eucharistische Christusopfer“ darbrachte. Was
dann schließlich zu dem seit dem Tridentinischen
Konzil (1545 bis 1563) bis zum Zweiten Vaticanum
(1962 bis 1965) verbindlichen Ritus in der
katholischen Kirche führte. Und im gesamten
Christentum zu unzähligen, teils
widersprüchlichen Abhandlungen über den Opfertod
Jesu und die dem entsprechende
Satisfaktionslehre (des Anselm von Canterbury,
1033–1109 n. Chr.) führte.
Und heute? Brauchen wir überhaupt noch Kult
und Priester? Und wenn ja, in welcher Form?
Einige dieser von immer mehr Gläubigen
gestellten Fragen – die in moderater Form auch
im Synodalen Weg einen Widerhall gefunden haben
– scheinen „sich wie ein spätes Echo auf die
alte Spannung zwischen Kultreligion und
Seelsorgereligion zu artikulieren“, meinte dazu
Ludger Schwienhorst-Schönberger. Was nicht
zuletzt eben auch die Opferthematik betrifft.
Denn der Opferbegriff ist gerade jetzt im
Zusammenhang mit dem Missbrauchkomplex besonders
problematisch geworden. Da muss immer wieder
deutlich gemacht werden, dass es dabei nicht um
das Feiern oder gar die Verherrlichung von
Gewalt geht. Und dass zwischen einem Opfer-Kult
(lat.: sacrificium / eng.: sacrifice) und einem
Opfer der Gewalt (lat.: victima / engl.: victime)
zu unterscheiden ist. Hier ist theologisch
manches in Bewegung.
Auch die Form des Gottesdienstes und die
Beschränkung des Priesteramtes auf Männer ist
nicht für alle Ewigkeiten in Stein gemeißelt.
Wie die zuvor erwähnten Konzile zeigten, dauert
es zwar lange, bis sich Änderungen
institutionell durchsetzen und höchstamtlich
anerkannt werden. Aber schon jeweils lange davor
haben Gläubige immer angefangen, Änderungen zu
thematisieren und voranzubringen. So auch jetzt
– wenn etwa Frauen an vielen Orten der Welt
anfangen, Gottesdienste zu leiten, die des
Mahles Christi gedenken, wenn Familien zu
Agape-Feiern zusammenkommen oder
Gemeindemitglieder sich zu Wort-Gottes-Feiern
treffen. Wen von ihnen kümmert es, ob diese
Feiern „sakramental“ sind? Das erscheint
mittlerweile selbst vielen Theologen als
nachrangig. Sakrament (lat.: sacramentum) gilt
als lateinische Übersetzung des griechischen
Wortes mystérion gleich Geheimnis (μυστήριον = Geheimnis, neben
dem latinisierten griechischen Wort mysterium).
Ist so gesehen nicht alles auf Gott gerichtete
Vertrauen, alles gläubige Handeln sakramental,
also ein Geheimnis? Alles, was lebt,
verändert sich – ständig. Da ist der Kirche viel
Leben zu wünschen.
Dieser Artikel erschien auch in der ökumenischen
Zeitschrift
ImTeam Nr. 44
Seite 8ff.
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