
Wahrheit – welche
Wahrheit?
Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin,
Trump & Co.
Von Christa Tamara Kaul – Oktober 2020
Ein altes russischen Sprichwort sagt: Nenne
einen Menschen zehn Mal Schwein, beim elften Mal
wird er grunzen (Назови человека десять раз
свиньёй, на одиннадцатый он захрюкает). Es
dürfte genau diese Zielrichtung sein, die hinter
den vielfältigen Lügen und Ränkespielen eines
Donald Trump und eines Wladimir Putin steckt.
Das Wissen um die Wirkmacht von Verleumdung ist
uralt und weltweit verbreitet. Aber aktueller
denn je – wie Helmut König in seinem Buch „Lüge
und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump &
Co." anhand der beiden derzeit
mächtigsten Männer der Welt ausführlich
analysiert.
Als hätten Putin und Trump die Aussagen von
Königs im September 2020 erschienenen Buches noch
nachträglich bestätigen wollen, haben beide
geradezu exemplarisch weiter geliefert: der eine
den Fall des vergifteten Regimekritikers Alexej Nawalny und der andere – unfreiwillig – seine
durch die New York Times (NYT) aufgedeckten
Steuermanipulationen, dazu seine unsäglichen
Wahlkampfauftritte und nicht zuletzt sein
Covid-19-Theater. Beiden gemein ist – wie mit
zig Beispielen belegt, Lügen, Tricks und
Täuschungen als probate Mittel ihrer Politik
einzusetzen. Wobei im Fall Putins auch noch Mord
und Totschlag dazukommen. Dabei spiegelt das
Profil der beiden Politiker (und nicht nur
dieser) durchaus die Geschichte und Kultur der
jeweiligen Länder wieder. Hier Trump, die
amerikanische Grobform des Unternehmertums ohne
Skrupel im Hinblick auf die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Vernichtung von Konkurrenten,
dort Putin, der im Kampf gegen jegliche
Konterrevolution versierte Geheimdienstexperte,
ohne Skrupel im Hinblick auf tödliche
Kollateralschäden.
Doch auch wenn sich beide Politiker(typen)
ähnlicher Mittel bedienen, so weist ihr
Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit deutliche
Unterschiede auf. „Aus dem Weißen Haus unter
Trump“, so König, „dringt ein nicht enden
wollender Strom von Schmähungen und Lügen an die
Öffentlichkeit, die Mauern des Kreml dagegen
sind so dicht wie Mauern von Jericho, und
bislang haben keinerlei Trompeten es vermocht,
für mehr Transparenz zu sorgen.“ Die Grundlage
für die sprichwörtliche Kreml-Astrologie.
Darüber hinaus lassen sich Lügen und
Täuschungsmanöver überall in unterschiedlichen
Funktionen anwenden. Als da wären zum einen die
schlichte Irreführung, zum anderen aber auch die
mit Kumpanen geteilte Lüge als Narrativ, das
Gruppierungen mit mafiaähnlichen Strukturen
verbindet. Beides setzt bewusst auf die Spaltung
der Gesellschaft, und beides sieht König vor
allem bei Trump bewusst eingesetzt.
Divide et impera
Wenn Demokratie auch und nicht zuletzt die
gegenseitige Achtung und Wertschätzung
gleichberechtigter Bürger/innen, also der
Pluralität beinhaltet, so ist Trumps Verhalten
von dem exakten Gegenteil geprägt. Das System
des Spaltens und Herrschens hat er nicht
erfunden, schon die Römer richteten ihre Politik
danach aus. Aber Trump bedient sich nicht nur
dieses Werkzeugs, er verkörpert es geradezu.
„Weil er meint, im Besitz eines universalen
Erfolgsrezepts zu sein, ist für ihn nur noch
alles eine Frage der Umsetzung, für die man
möglichst viel Macht braucht. … Folgerichtig
setzt der Präsident alles daran, diese Akteure,
die seine Allmacht begrenzen, auszuschalten. Im
Grunde versteht Trump Politik nach innen als
Einpersonenherrschaft, und analog dazu besteht
im Blick auf die Außenbeziehungen seine
Idealvorstellung darin, dass alles sich dem
Prinzip von America first, das eigentlich
America alone meint, unterordnet“, so König. Was
– ebenfalls logischerweise – dazu führen muss,
alles, was anderer Meinung ist, klein zu machen
oder ganz auszuschalten. Es geht um die Stärkung
der eigenen Position mittels Schwächung und
Diffamierung der Konkurrenten und Opponenten. An
Beispielen dafür mangelt es in dem Buch nicht,
doch hat sich Trump auch nach dem
Erscheinungsdatum des Buches eifrig bemüht,
dieses Prinzip in die Tat umzusetzen.

So kanzelte er beispielsweise am 19. Oktober
Amerikas führendem Corona-Experten Anthony Fauci
(79) ab, zunächst per Twitter, später dann in
einer Telefonschalte mit seinem Wahlkampfteam,
indem er den renommierten Chef des Nationalen
Instituts für Infektionskrankheiten als
„Katastrophe“ und indirekt als Idioten
bezeichnete, der dem demokratischen
Präsidentschaftskandidaten Joe Biden (77) in die
Hände spiele. Und das eben, weil Fauci bezüglich
der Pandemie anderer Meinung als Trump war und
ist. Allerdings: Während König Trump noch als
mit dieser Methode zu Geld gekommenen
Immobilienhai einstuft, scheint sich nun auch
noch der Verdacht zu erhärten, dass Trump zudem
ein hoch verschuldeter Aufschneider sein könnte,
dessen wahrscheinlich prekäre Finanzlage ihn
möglicherweise politisch erpressbar macht.
"I love depreciation” (Ich liebe
Abschreibungen), zitierte die New York Times (NYT)
in ihrem die Finanzgebahren des Präsidenten
durchleuchtenden Artikel vom 27. September eine
Aussage Donald Trumps während einer
Präsidentendebatte im Jahr 2016. „Vergessen Sie
nicht, ich bin der König der Schulden", hatte er
damals geprahlt. "Ich weiß mehr über Schulden
als praktisch jeder andere. Ich liebe Schulden.
Ich liebe es auch, Schulden zu verringern. Und
ich kann das besser als jeder andere." Und so
sorgten laut NYT eine Vielzahl von
Abschreibungen und Verlusten dafür, dass Trump
jahrelang, nämlich in 11 von 18 Jahren, nahezu
steuerfrei blieb. Im Jahr seines Wahlsiegs und
seinem ersten Amtsjahr zahlte er gerade mal
jeweils 750 Dollar. Dass er dabei rund 70.000
Dollar in einem Jahr als Ausgaben für seinen
Friseur abschrieb – o.k. geschenkt. Derzeit soll
der amerikanische Präsident persönlich für
Schulden seines Geschäftsimperiums im Umfang von
421 Millionen Dollar haften. Der Großteil der
Kredite soll in den nächsten vier Jahren fällig
werden, wobei jetzt an der Liquidität Trumps
ernsthaft gezweifelt wird.
Dazu passen bestens auch die Recherchen der NYT
vom 20.10.2020, die ans Licht brachten, dass der
US-Präsident ein Bankkonto in China besitzt,
eigene Geschäfte in der Volksrepublik
vorangetrieben und dort teils mehr Steuern
gezahlt haben soll als in den USA. Und das,
obwohl er seit Jahren einen Handelskrieg mit
China führt und andere Länder ebenso dazu
anhält. Das alles führt zwangsläufig zu der von
König genüsslich aufgeblätterten
„Tiefenerzählung“ Trumps. Sie besteht im
Wesentlichen aus zwei Kapiteln, dem Kapitel von
Rebellion, Provokation, Hemmungslosigkeit und
Unverschämtheit auf der einen Seite, und dem
Kapitel von Erfolg, Geld, Reichtum und Allmacht
auf der anderen Seite. „Der Einsatz von Lügen
und Täuschungsmanövern bedient beide Facetten
gleichermaßen, das Rebellische und das
Erfolgreiche. … Je faustdicker die Lügen, desto
faustdicker der Spaß.“ Wer am Schluss den
dicksten Spaß haben wird, ist allerdings
gegenwärtig noch offen.

Nichts ist wahr, alles ist möglich
Und Putin – wie hält er es mit der Wahrheit?
Wahrheit? Welche Wahrheit? Er arbeitete von 1975
bis 1990 (unter anderem in der DDR) für den
russischen Geheimdienst KGB (Комитет
государственной безопасности, dt. Komitee für
Staatssicherheit), und zwar – wie mehrfach
belegt – mit wahrer Begeisterung. 1998 wurde er
dann Direktor des Inlandgeheimdienstes FSB
(Федеральная служба безопасности Российской
Федерации -
Föderaler
Dienst für Sicherheit der Russischen
Föderation), also der KGB-Nachfolgeorganisation.
Zu den Kernkompetenzen dieser Art von
Geheimdienstlern gehört es, sich sowohl auf jede
erdenkliche Art Informationen zu beschaffen, als
auch und vor allem selbst Informationen zu
streuen, vornehmlich falsche, indem getäuscht
wird, Spuren verwischt, Verwirrung gestiftet und
falsche Fährten gelegt werden. Und nicht zuletzt
immer die Lizenz zum Töten gegeben ist. Eine
solche Tätigkeit prägt jeden Menschen, der sie
jahrelang mit Überzeugung ausübt. Und Putin
beherrscht dieses Handwerk ganz offensichtlich
bis heute exzellent. Derzeit aktuellster Beweis
dafür ist der Fall des Regime- und
Putinkritikers Alexej Nawalny.
Sicher stehen Freiheitsbestrebungen und
zivilgesellschaftliche Gruppierungen in diesem
Riesenreich mit seiner jahrhundertealten
Tradition zaristischer, autokratischer und
diktatorischer Herrscher vor besonderen
Herausforderungen. Eine Zivilgesellschaft konnte
sich bisher noch nie über einen längeren
Zeitraum entwickeln und wirklich Fuß fassen. Das
kurze „Aufblühen … unabhängiger
zivilgesellschaftlicher Vereinigungen seit
Gorbatschow blieb eine kurzzeitige Episode, die
in den Augen Putins so schnell wie möglich …
kontrolliert werden musste“, wie König
vollkommen zu Recht feststellt. Während
Initiativen, die sich im Bereich von
Wohltätigkeit, sozialer Selbsthilfe, Umwelt,
Bildung und Unterhaltung engagieren, von
staatlicher Seite gern gesehen sind, hört das
Wohlwollen schlagartig auf, sobald es um die
politische Freiheit geht. Als sich Anfang der
2000er Jahre zunehmend regierungskritische
Kundgebungen gegen die zweifelhaften Politspiele
von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew häuften,
reagierte die Regierung unter anderem im Jahr
2007 mit einem Gesetz, gemäß dem sich
Nichtregierungsorganisationen (NGO) als
„ausländische Agenten“ registrieren lassen
müssen, wenn sie auch nur die geringste
Unterstützung aus dem Ausland erhalten – und
seien es Schreibmaterialien. Nur einer von
vielen Stolpersteinen für Oppositionelle.
Doch je mehr die russische
Präsidial-Administration unter Putin ihr System
der (von ihr so genannten) „gelenkten
Demokratie“ etablierte, umso mehr keimten trotz
allem Protestbewegungen. Zu den
mittlerweile für die politische Elite
gefährlichsten Gegnern zählt eben der Jurist
Alexej Nawalny – Russlands gegenwärtig
bekanntester und aktivster Regimegegner, der
sich derzeit in Deutschland von dem mit
äußerster Wahrscheinlichkeit von
staatlich-russischer Seite verübten
Giftmordanschlag erholt. Bereits 2008 titulierte
er Putins Kreml-Partei „Einiges Russland“
(Единая Россия) als „Partei der Gauner und
Diebe“ (партия жуликов и воров). Das saß – und
setzte sich im Bewusstsein vor allem der
städtischen Bevölkerung fest. Dementsprechend
orientieren sich die oppositionellen Kräfte an
der Maxime „Nicht lügen, nicht stehlen“. Und das
aus gutem Grund, denn Korruption und
Machtmissbrauch der jeweils Herrschenden, auch
und besonders zum Zweck der eigenen
Bereicherung, haben in Russland bis heute eine
schon geradezu verinnerlichte Tradition. Wie von Nawalny und anderen Oppositionellen immer wieder
nachgewiesen wurde.
Da stellt sich manchen Westeuropäern vielleicht
die Frage, warum nicht deutlich mehr Menschen
aufbegehren. Doch dabei werden die speziellen
russischen Gegebenheiten übersehen. Auch wenn
unter Putin eine deutlich repressive
Staatsführung gepflegt wird, so gibt es dennoch
etliche Freiräume und Schlupflöcher, die viele
Bürger/innen ein durchaus selbstbestimmtes, oft
auch finanziell auskömmliches Leben führen
lassen. Einzige Voraussetzung: keine eigenen
politischen Ansichten und Ziele. Und das ist
nach der langen Zeit kommunistischer Diktatur
immerhin schon ein Fortschritt. Zum anderen
machen sich die meisten Bürger/innen keine
Illusionen über die mehr oder minder korrupte
politische Führung. Was den Autor Peter Pomerantsev in der punktgenauen Schlussfolgerung
zusammenfasste „Nichts ist wahr und alles ist
möglich“. In dem 2014 unter diesem Titel
erschienenen Buch stellt er die Mehrheit der
russischen Bevölkerung als verunsichert und
gespalten dar, hypnotisiert durch die „vom Kreml
gesteuerte Medien-Hydra“, die das Leben in
Russland wie eine „von der Regierung inszenierte
schillernde Reality-TV-Show“ darbiete. „Diese
neue Form von Autoritarismus ist brillant“, sagt
Pomerantsev. „Anstatt die Opposition zu
unterdrücken, wie das in verschiedenen
Erscheinungsformen des zwanzigsten Jahrhunderts
der Fall war, dringt er direkt in die Ideologien
und Bewegungen vor und kehrt sie von innen ins
Absurde.“ Auflehnung, Proteste, Dekadenz und
Verschwörungstheorien werden aggressiv
inszeniert, Realität wird von hochrangigen
PR-Managern stürmisch umdefiniert.
Da wäre es die Aufgabe unabhängiger Medien, die
Tricks und Fiktionen der Politik kritisch zu
hinterfragen und gegensätzlichen Meinungen Raum
zu geben. Wenn es sie denn noch gäbe. Doch
unabhängige Medien, die die staatliche
Reality-Show stören könnten, wurden
weitestgehend längst zum Schweigen gebracht,
allen voran das Fernsehen, von dessen
politischer Allmacht Putin offenbar so überzeugt
zu sein scheint wie Trump. Folglich sind alle
wichtigen Sender in der Hand des Kremls. Im
November 2019 ging es dann mit einem neuen
Gesetz auch noch dem freien Internet an den
Kragen: Die in dem Gesetz enthaltenen
Bestimmungen erlauben es ziemlich problemlos,
unliebsame Seiten zu sperren und deren
Betreiber, sofern sie im russischen
Wirkungsbereich angesiedelt sind, zu
sanktionieren. Etwa wenn sie durch „eklatante
Respektlosigkeit“ gegenüber dem Staat, den
Behörden, der Verfassung oder der Landesfahne
auffallen. Ein regierungskritischer Blogpost
wird von Putin als Cyberangriff gesehen.
Im Gegensatz zu früheren diktatorischen Regimen
in Russland läuft die aktuelle Strategie also
nicht auf die Indoktrination mit einer
bestimmten Ideologie hinaus. Für den Machterhalt
der derzeit Herrschenden reicht es aus,
Misstrauen und Verwirrung zu stiften. Der
„Durchschnittsbürger“ kann nur den von der
Regierung geschalteten Informationen glauben
oder auch nicht, überprüfen kann er sie kaum
oder gar nicht – sofern er nicht einiger
Fremdsprachen mächtig ist und entsprechende
ausländische Internetdienste empfangen kann. Als
Folge hat sich im Bewusstsein der Bevölkerung
ein „Gefühl des Halb-Glaubens, Halb-Mißtrauens“
gebildet, das einen Zustand von Argwohn und
Ohnmacht, bisweilen auch Angst zur Folge hat.
Eben immer nach dem Motto „Nichts ist wahr,
alles ist möglich“.
Dass da oppositionelle Kräfte, die in letzter
Zeit für russische Verhältnisse erstaunlich
erstarkten, von der „politischen Elite“ als
wahrhaftige Gefahr angesehen werden, wundert
nicht. Und eben auch nicht die den russischen
Verhältnissen entsprechenden Gegenmaßnahmen –
etwa die Erschießung von Boris Nemzow (2015),
die Vergiftung von Sergej Skripal und dessen
Tochter (2018), der versuchte Giftmord an Alexej
Nawalny (2020).
Kreml-Astrologie und die Taschen voll Gold
Was nun verbindet Politiker wie Trump und Putin,
was ist ihnen gemein? Die Antwort ist relativ
einfach: allem voran der angerichtete Schaden.
„Der Schaden, den beide in der Welt der Politik
anrichten, ist immens“, so König. Denn während
Trump mit seiner bisherigen Agenda die Axt an
die Wurzeln eines einigermaßen intakten
politischen Systems gelegt hat, vernichtete
Putin die in der Zeit der Perestroika nach dem
Untergang der Sowjetunion langsam entstandene
unabhängige politische Öffentlichkeit. Doch
Freiheit und Wahrheit hängen unmittelbar
zusammen. Nur wo Meinungsfreiheit herrscht,
können Informationen ungehindert ausgetauscht
werden. Nur dort können die Gesellschaft und
deren frei gewählte Vertreter offen diskutieren
und entscheiden.
Auch wenn es derzeit in den USA noch nicht und
in Russland nur bedingt so weit ist wie in dem
von König zitierten Roman „Der Prozess“ von
Franz Kafka, so hinterlässt doch Kafkas Aussage
auch im Hinblick auf die Gegenwart ein flaues
Gefühl: „Man muss nicht alles für wahr halten,
man muss es nur für notwendig halten. … Die Lüge
wird zur Weltordnung gemacht.“ Damit es nicht
soweit kommt, sind aufklärende Analysen, wie sie
in diesem Buch geboten werden, äußerst
hilfreich.
Helmut König
Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin,
Trump & Co.
transcript, 2020, 360 Seiten, 29,50 Euro
ISBN 978-3-8376-5515-5