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Ming-huei Lee: Konfuzianischer Humanismus
Transkulturelle Kontexte
2013 transcript Verlag, Bielefeld
174 S., kart., 24,80 €
ISBN 978-3-8376-2515-8 

Moralische Religion im Sinne Kants?


Konfuzianischer Humanismus im heutigen China

 

Christa Tamara Kaul       -      19.01.2014

 


Seit rund 2.500 Jahren hat die Lehre des Konfuzius die Kultur und das Alltagsleben Chinas wesentlich beeinflusst. Dabei durchlief sie im Laufe der Zeit verschiedene Rezeptions- und Interpretationsstadien und erlebt auch und gerade heutzutage neue Beachtung – eine Art Renaissance. Doch was ist die Lehre des Konfuzius eigentlich – eine Religion, eine Philosophie oder eine Form der Soziallehre? Der Philosoph Lee Ming-huei versucht darauf eine Antwort zu geben, und zwar im Kontext mit dem Kantschen Verständnis einer moralischen Religion.

Die Kantsche Philosophie sei eine, wenn nicht DIE Vermittlungsinstanz zwischen westlichem und chinesischem Denken – so die Überzeugung der meisten mit der Geistesgeschichte befassten chinesischen Gelehrten. Auf dieser Grundlage fußt auch das Buch „Konfuzianischer Humanismus“ von Lee Ming-huei, das in der Reihe „Transkulturelle Kontexte“ des transcript-Verlages erschienen ist. Es bietet sowohl eine inhaltliche und zeitgeschichtliche Betrachtung des Konfuzianismus als auch vergleichende Analysen konfuzianischer Klassiker. Darüber hinaus erfolgt neben einer kurzen Einführung in Kants Theorie der moralischen Religion eine Betrachtung von Forschungsergebnissen zu Konfuzianismus und abendländischer Philosophie.
 

Die Grundlagen

Die Begriffe Konfuzianismus, Religion und Humanismus entstammen zwar ursprünglich dem europäischen Kulturraum, doch sie haben sich im Zusammentreffen der chinesischen Kultur mit dem westlich-abendländischer Denken – also etwa ab dem 17. Jahrhundert – auch in China etabliert. Es waren im Wesentlichen Jesuiten, die sich ab dem späten 16. Jahrhundert, vor allem aber im 17. Jahrhundert dem chinesischen Reich und seiner Kultur zuwandten, um das Christentum dorthin zu tragen. So ist der Name Konfuzius die von Jesuiten im 17. Jahrhundert latinisierte Form von K'ung-fu-tzu, was so viel bedeutet wie Lehrmeister K’ung. Die erste (bekannte) Übersetzung seiner Lehre ins Lateinische erfolgte im Jahr 1687 durch den Jesuitenpater Prospero Intorcetta.

 


 

 

Konfuzius lebte etwa von 551 bis 479 v.Chr. im Gebiet der heutigen Provinz Shandong, ist also im Gegensatz zu Laozi (auch Laotse oder Lao-Tse geschrieben), dem – wahrscheinlich – mythischen Urvater des Daoismus, eine historische Gestalt. Anliegen und Hauptthema seiner Lehren war das friedvolle Zusammenleben der menschlichen Gemeinschaft in Harmonie mit dem gesamten Kosmos. Dies sah er vor allem durch die Achtung vor „dem Menschen“ und durch die Ahnenverehrung gewährleistet, die auf den fünf Tugenden Menschlichkeit, Gerechtigkeit, ethisches Verhalten, Weisheit und Güte beruhen.
 

Dabei spielten weitgreifende verbindliche Vorgaben moralischen Verhaltens eine entscheidende Rolle, allen voran die Regelung der “fünf menschlichen Beziehungen“. Diese gaben Anweisungen für die Beziehung zwischen Herrscher und Untertan, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen älterem und jüngerem Bruder und zwischen Freund und Freund. Das jeweilige Verhalten sollte durch die Kardinaltugenden Gehorsam und Menschlichkeit geprägt sein, wobei – mit Ausnahme der Freund-Freund-Beziehung – der oder die Zweitgenannte dem jeweils Erstgenannten Gehorsam schuldet. Als Ideal strebte die Lehre den „edlen Menschen“ an, einen, der sich moralisch einwandfrei, gleichmütig und aufgrund der Befolgung festgelegter Riten in harmonischer Übereinkunft mit seiner Umgebung und der allumfassenden Weltordnung verhält. So sollten Idealzustände in Staat und Gesellschaft erreicht werden.

Ein für die damalige Zeit bemerkenswerter Aspekt lag darin, dass Herrschaft damit – theoretisch jedenfalls – nicht mehr auf Abstammung und Adel fußte, sondern sich durch Wissen und moralische Integrität legitimieren sollte. In der Praxis allerdings wurde das aber vielfach durch Korruption konterkariert. Dies umso mehr, je weiter sich aus den beiden Meta-Geboten im Lauf der Jahrhunderte ein kompliziertes Geflecht von Vorschriften und Ritualen des politischen und gesellschaftlichen Lebens entwickelte. Zudem setzte die notwendige Bildung ein immenses Lernpensum mit großem Zeitaufwand und damit auch einen gewissen Wohlstand voraus.

Das förderte nicht zuletzt ein elitäres Bewusstsein. Denn der Konfuzianismus unterschied im Laufe seiner Entwicklung immer stärker zwischen dem "Edlen, Wissenden“ und dem "Gemeinen", der belehrt und geführt werden muss. Hinzu kam, dass das Erklärungsmonopol zunehmend hin zum Staat verlagert wurde und der jeweilige Herrscher schließlich seit der Han-Zeit professionelle Gelehrte, die als Staatsbeamte dienten, über die korrekte Auslegung und Befolgung der mittlerweile kanonisierten Schriften befinden ließ.

Die Wirkung dieser Tradition setzte sich bis in jene politischen Strömungen und Programme fort, die China 1911 zur Republik und 1949 zur Volksrepublik führten. Sun Yatsen beispielsweise beschrieb in seinen "Drei Volksprinzipien" den Weg zum Verfassungsstaat in drei Phasen: Am Anfang eine Militärdiktatur, um die verfeindeten Herrscher in den Provinzen zu besiegen und die staatliche Einheit herzustellen. Dann eine "Erziehungsdiktatur", auch Vormundschaftsregierung genannt, um das Volk in einer sechsjährigen Periode zur richtigen Ausübung seiner politischen Rechte zu erziehen, und erst dann schließlich die Bildung eines Verfassungsstaates.

Menscheinfeindliche Feudalideologie

Kritik am Konfuzianismus gab es bis zu einem gewissen Grad zwar zu allen Zeiten, wirklich substanzielle Ablehnung formierte sich aber erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Er wurde zunehmend als „konservative Feudalideologie“ angesehen. Nach dem demütigenden Frieden von Shimonoseki mit Japan (1895) etwa setzte Kaiser Guangxu in der "Reform der Hundert Tage" 1898 ganz auf eine westliche Orientierung Chinas, um das Land in die Moderne zu führen und konkurrenzfähig mit der westlich-imperialistischen Welt zu machen. Seine Absicht wurde allerdings von der Kaiserinwitwe Cuxi konterkariert.

Mao Zedong (auch: Mao Tse-tung) wetterte zu Beginn seiner politischen Laufbahn mit der Parole "Zerschlagt den Kramladen des Konfuzius", die aus der antijapanisch, antiwestlich orientierten studentischen "Bewegung des 4. Mai" von 1919 stammte, gegen den Konfuzianismus als eine reaktionäre Rechtfertigungsideologie der zweitausendjährigen Kaiserherrschaft. Jahre später, 1938, sprach er dann jedoch von einer "Sinisierung des Marxismus", die aus der Auseinandersetzung mit dem Denken und den Erfahrungen "von Konfuzius bis Sun Yatsen" erwachsen sei. Was allerdings, so Lee, in den 1950er Jahren wieder aus der offiziellen Werkausgabe gestrichen wurde. 1958 soll er sich in seiner Parteitagsrede gerühmt haben: "Der Erste Kaiser der Qin hat nur 460 konfuzianische Gelehrte lebendig begraben, wir haben 46 000 begraben." Zur Zeit der Kulturrevolution (ca. 1966 – 1974) wurde die Geschichte Chinas als Kampf zwischen Konfuzianismus und Legalismus interpretiert. Doch da die Kommunistische Partei nicht nur im Klassenkampf agierte, sondern auch immer äußerst nationalbewusst war und noch ist, wurde Konfuzius, zumindest partiell, schon bald nach Mao wieder als Aushängeschild der chinesischen Kultur „reanimiert“.

Unabhängig von wechselnden politischen Verhältnissen galten aber nicht nur Konfuzius’ moralische Lehren, sondern auch seine eigene Lebensweise in weiten Teilen des Landes und zu allen Zeiten als mustergültig. Bemerkenswert dabei ist, dass es – ähnlich wie bei Sokrates – keine Originaltexte des Konfuzius, sondern ausschließlich Aufzeichnungen und Kommentare seiner Schüler und Nachfolger gibt. Dabei führten Tradierung und Interpretation seiner Lehren – mehr oder minder zwangsläufig – zu einer konzeptionellen Weiterentwicklung.

Ist der Konfuzianismus eine Form des Humanismus?

Diese Frage ist nur bedingt zu beantworten, da dabei die vage, durchaus nicht deckungsgleiche Definition des Begriffes Humanismus in ihrem Ursprungsbereich, also der europäischen Geistesgeschichte, zu berücksichtigen ist. Der britische Historiker Alan Bullock beispielsweise unterscheidet drei Modi des Verhältnisses von Mensch und Kosmos: einen transnatürlichen oder transzendentalen Modus, in dessen Mittelpunkt Gott steht und der Mensch als Teil der göttlichen Schöpfung verstanden wird; einen naturalistischen oder wissenschaftlichen Modus, in dessen Zentrum die (evolutionäre) Natur und der Mensch als Teil dieser natürlichen Ordnung stehen; und schließlich einen humanistischen Modus, in dessen Zentrum der Mensch steht und der die menschliche Erfahrung als ausreichendes Mittel ansieht, um damit sowohl den Menschen selbst als auch Gott sowie die gesamte Natur erforschen und verstehen zu können.

Wie Lee zeigt, neigen die chinesischen Denker ziemlich einmütig der letztgenannten Variante zu und sehen darin zudem – sehr selbstbewusst – den Nachweis, dass schon früh, also vor dem Zeitalter des europäischen Humanismus, von einem chinesischen Humanismus gesprochen werden kann. Dieser unterscheide sich allerdings deutlich – und nach ihrer Ansicht vorteilhaft – von den meisten westlichen Strömungen. So zitiert Lee aus einem 1969 veröffentlichten Werk des Philosophen Xu Fuguan (1903-1982):

„Die Entfaltung der chinesischen Kultur war erfolgreich, weil sie weder Gott in den Mittelpunkt gestellt hat noch die Natur, sondern den Menschen. Von daher scheint nichts dagegen zu sprechen, die chinesische Kultur als humanistische Kultur zu bezeichnen. Das Wort Humanismus ist jedoch mit Assoziationen an den europäischen Humanismus seit dem 15. Jahrhundert verbunden, die sehr leicht zu Missverständnissen führen können.“

Die Kant-Rezeption in China – geistige Brücke nach Fernost

Eine Geistesverwandtschaft erkennen dagegen die meisten mit dem Konfuzianismus befassten Wissenschaftler mit dem Idealismus, und da vor allem mit dem deutschen Idealismus, von Kant bis Hegel. In der Philosophie Kants sehen sie einen Gleichklang zum chinesischen Humanismusverständnis, so dass eine bevorzugte Übersetzung „humanistic idealism“ lautet.

Folgerichtig wirft der von Lee mehrfach zitierte Tang Junyi (1909-1978) dem im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandenen westlichen „Neuhumanismus“ vor, dass er der von ihm hervorgebrachten an sich richtigen Idee einer „vollständigen Person“ – im Gegensatz zu Kant – den „kritischen Geist der Philosophie, den praktischen Geist der Moral und den glaubenden Geist der Religion“ vorenthalten zu haben:

„Insbesondere die Philosophie Kants vermag gleichermaßen das Subjekt der Erkenntnis, das Subjekt der Moral sowie das Subjekt als Quelle von ästhetischen Urteil und künstlerischer Schöpfung zu berücksichtigen. Allerdings bildet die Philosophie Kants, Fichtes und Hegels keine Einheit mit dem neuhumanistischen Denken, und obwohl sie manchmal als Humanismus bezeichnet worden sein mag, wurde ihre Philosophie, die … das größte Gewicht auf die menschliche Vernunft und den menschlichen Geist legt, von anderen wie von ihnen selbst als Idealismus bezeichnet.“

Unzweifelhaft, wenn auch Europäern oft nicht geläufig, fand die Philosophie Kants in China schon recht früh eine äußerst interessierte und wohlwollende Aufnahme. Sie beginnt etwa Mitte des 19. Jahrhunderts und lässt sich grob in drei Phasen einteilen. Besonders prägnant hat Mou Zongsan (1909-1995), ein führender Vertreter der „dritten Phase“, die innere Verwandtschaft von Kantscher Philosophie und konfuzianischem Denken durch einen systematischen Vergleich beider Denkgebäude belegt, und zwar mit dem ausgewiesenen Ziel, die Kantsche Philosophie als Vermittlungsinstanz zwischen westlichem und chinesischem Denken, das sich in den drei Säulen Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus manifestiert, einzuführen.

Mou Zongsan bescheinigt dem westlichen Humanismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, der sich parallel, aber nicht deckungsgleich mit dem deutschen Idealismus entwickelt habe, den Fehler, auf die hohe Inspirationskraft und den moralischen Geist der Religion verzichtet zu haben. Mou und viele Gelehrten vor ihm erkennen im Konfuzianismus einen Humanismus, der nicht im Gegensatz zur Religion steht.

Kants moralische Religion und die immanente Transzendenz des Konfuzianismus

Das zieht zwangsläufig die Frage nach sich, ob es sich beim Konfuzianismus sogar um eine Religion handelt. Zunächst ist dabei zu beachten, dass einer der zentralen Begriffe des konfuzianischen Weltbildes die Ordnung, auch und gerade die gesellschaftlich-pollitische Ordnung, war und ist. Insofern und aufgrund der eingangs angesprochenen geschichtlichen Entwicklung lässt sich die Lehre durchaus auch als eine Art Sozialsystem einordnen. Zudem unterscheidet sich die Bedeutung des Begriffes Religion im chinesischen Kulturraum – und besonders im Bezug auf den Konfuzianismus – deutlich vom allgemeinen westlichen Verständnis. So liegt dem Konfuzianismus beispielsweise jegliche Offenbarung völlig fern. Stattdessen entspringen nach dieser Auffassung alle moralischen Vorgaben und Handlungen einer immanenten Transzendenz, die zu erkennen und zu leben weise Menschen fähig sind.

Es ist jedoch genau diese Annahme einer immanenten Transzendenz, die für einen sehr weit gefassten Religionscharakter spricht. Gelehrte, wie Tang Junyi und Mou Zongsan, sehen das Wesen der Religion in der „Einheit von Himmel und Mensch“. Dies wird dargestellt in dem bipolaren Spiel zwischen den zwei Urkräften, dem männlichen Yang und dem weiblichen Yin. Auch die Verehrung der drei Riten – Verehrung des Himmels, Verehrung der Ahnen, Verehrung der heiligen und weisen Menschen – weist religiöse Züge auf.

Dabei ist zu beachten, dass sich die Vorstellung von Himmel im Lauf der Jahrhunderte gewandelt hat. So verstand das chinesische Altertum Himmel durchaus im Sinne einer personalen transzendenten Instanz, eines personalen Gottes. Vor allem durch die Lehren des Konfuzius jedoch begann eine Transformation, indem die Transzendenz gleichsam verinnerlicht, also der menschlichen Natur und deren moralischem Potenzial immanent zugesprochen wurde. Wobei der personale Charakter von Transzendenz mehr in den Hintergrund trat, bemerkenswerterweise aber nie eindeutig verneint wurde. Auch wenn in der Lehre Himmel und Mensch zunehmend zur Einheit verschmolzen, so schlossen sich Transzendenz und Immanenz jedoch gegenseitig keineswegs aus.

Lee: „Die Religiosität des Konfuzianismus geht von der Einheit zwischen Immanenz und Transzendenz aus (oder von immanenter Transzendenz) aus, während die Religiosität des Christentums deren Trennung voraussetzt.“ Im Kontext dieses Buches hebt der Autor die von zeitgenössischen chinesischen Gelehrten weitestgehend unumstrittene Ansicht hervor, „dass der Konfuzianismus eine moralische Religion im Kantischen Sinn ist und dass es sich hier um einen Humanismus mit religiöser Dimension handelt – im Unterschied zum ,säkularen Humanismus’ des Abendlandes“.

Dabei wird auf die klar erkennbaren Parallelen zu Kants religionsphilosophischen Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, in dem er den Religionsbegriff auf die Grundlage der „Vernunftreligion“ bzw. des „moralischen Glaubens“ stellt, verwiesen. Kant charakterisiert hier die Idee der Freiheit, die Idee der Unsterblichkeit der Seele und die Idee Gottes als unbeweisbare, aber notwendige Postulate der Vernunft. Allerdings sieht er als Ziel der Vernunftreligion nicht primär die Erlösung oder andere Belohnungen für eine gute Lebensführung an, sondern allein den moralischen Lebenswandel selbst, also die – permanente – Durchsetzung des „Guten“ gegen das „Böse“. Auch in der von Kant postulierten Autonomie der praktischen Vernunft, die zu einem unbedingten Sittengesetz führt, wird eine Wesensverwandtschaft zu der immanenten Transzendenz des Konfuzianismus gesehen.

Einige Berührungspunkte

Zweifellos bestehen zwischen der christlichen Lehre und den Ideen Kants und in noch stärkerem Maß zwischen Christentum und den Denksystemen chinesischer Philosophen essenzielle Unterschiede. Dennoch sollten einige wenige Berührungspunkte nicht unerwähnt bleiben. So heißt es beispielsweise bei Matthäus 7,12: „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt – das ist es, was das Gesetz und die Propheten fordern.“ Zweifellos ein Anspruch, der sich wie eine Vorlage zu Kants Kategorischem Imperativ anhört. Und bei den christlichen Mystikern finden sich Gedankengänge, die durchaus die konfuzianische Verbindung von Immanenz und Transzendenz berühren. Teresa von Avila etwa formulierte es so: „Meint ihr wohl, es sei für die zerstreute Seele von geringer Wichtigkeit, … zu wissen, dass sie nicht erst zum Himmel aufsteigen braucht, um mit ihrem ewigen Vater zu reden und seiner sich zu erfreuen? ... Um ihn zu suchen, bedarf es keiner Flügel; sie braucht nur einsam in ihr Inneres zu blicken, wo sie ihn finden wird.“ Und Ignatius von Loyola wird der Rat zugeschrieben: „Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge allein von dir und nicht von Gott abhinge; dabei aber gib dir alle Mühe (zuzugestehen), dass du selbst nichts, Gott allein aber alles vollbringen werde" (Sic Deo fide, quasi rerum successus omnis a te, nihil a Deo penderet; ita tamen iis operam omnem admove, quasi tu nihil, Deus omnia solus sit facturus). Auch diese anscheinend widersprüchlich unsinnige Aufforderung entspringt einer Annahme von immanenter Transzendenz, wobei allerdings weder Ignatius von Loyola noch Teresa von Avila den geringsten Zweifel an der Existenz eines personalen Gottes hegten.

„Konfuziusfieber“

Im zeitgenössischen Geistesleben Chinas, und zwar auch und gerade dem der Volksrepublik China, ist ganz offenbar eine regelrechte Konfuziuskonjunktur erwachsen, die sich in zahlreichen Tagungen und in der vermehrten weltweiten Gründung von Konfuzius-Instituten manifestiert. Dafür haben sich Begriffe wie Guoxue (= Nationalstudien oder nationale Gelehrsamkeit, wozu vorrangig der Konfuzianismus gehört) und „Guoxue re“ (=Guoxue-Fieber) etabliert. Etwa seit den 1990er Jahren nahm diese Entwicklung an Fahrt auf. Aktueller Widerspruch regt sich allerdings ebenfalls, und zwar auch jenseits marxistischer Fundamentalopposition. Zu den Kritikern des Neo-Konfuzianismus zählt nicht zuletzt der bekannte Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo, Jahrgang 1955, ehemals Dozent an der Pädagogischen Universität Peking und Präsident des chinesischen PEN-Clubs unabhängiger Schriftsteller, der 2009 wegen zahlreicher Protestaktionen gegen die chinesische Regierungspolitik zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.

Wer sich mit dem Thema des zeitgenössischen Konfuzianismus weitergehend beschäftigen möchte, findet in dem Buch von Lee Ming-huei eine hervorragende Einstiegsmöglichkeit. Es bietet die Möglichkeit, sich bis zu einem beachtlichen Grad selbst einen Eindruck dieses komplexen Gebietes zu verschaffen. Und das vor allem, indem es Zugang zu drei Themen eröffnet: erstens zu dem Begriff des Humanismus, indem er das chinesische (konfuzianische) und das abendländische Verständnis vergleicht; zweitens zum Begriff des „konfuzianischen Humanismus“, indem er eine Reihe klassischer konfuzianischer Texte ausführlich vorstellt und erörtert; und drittens zur (hierzulande weithin unbekannten) Kant-Rezeption in China und der besonderen Bedeutung von Kants Philosophie für die Selbsttransformation des „Modernen Neukonfuzianismus“. Die vom Autor bekundete Absicht, westliche Leser „mit der philosophischen Interpretation chinesischer Kultur vertraut zu machen und jenen Prozess der Selbsttransformation besser zu verstehen, den sie im Zuge der chinesischen Modernisierung erfahren hat“, einschließlich des offiziell weiter geltenden Primats des Marxismus, darf als gelungen angesehen werden. Und ganz nebenbei bietet sich den mit der Religionsphilosophie Kants nicht so Vertrauten ein von einem chinesischen Autor sehr verständlich gebotener Einstieg in diesen Teil des Kantschen Werkes.


Ming-huei Lee: Konfuzianischer Humanismus
Transkulturelle Kontexte
2013 transcript Verlag, Bielefeld
174 S., kart., 24,80 €
ISBN 978-3-8376-2515-8

 

© Christa Tamara Kaul