
Moralische Religion im Sinne
Kants?
Konfuzianischer Humanismus im heutigen China
Christa
Tamara
Kaul - 19.01.2014
Seit rund 2.500 Jahren hat die Lehre des Konfuzius die Kultur
und das Alltagsleben Chinas wesentlich beeinflusst. Dabei
durchlief sie im Laufe der Zeit verschiedene Rezeptions- und
Interpretationsstadien und erlebt auch und gerade heutzutage
neue Beachtung – eine Art Renaissance. Doch was ist die Lehre
des Konfuzius eigentlich – eine Religion, eine Philosophie oder
eine Form der Soziallehre? Der Philosoph Lee Ming-huei versucht
darauf eine Antwort zu geben, und zwar im Kontext mit dem
Kantschen Verständnis einer moralischen Religion.
Die Kantsche Philosophie sei eine, wenn nicht DIE
Vermittlungsinstanz zwischen westlichem und chinesischem Denken
– so die Überzeugung der meisten mit der Geistesgeschichte
befassten chinesischen Gelehrten. Auf dieser Grundlage fußt auch
das Buch „Konfuzianischer Humanismus“ von Lee Ming-huei, das in
der Reihe „Transkulturelle Kontexte“ des transcript-Verlages
erschienen ist. Es bietet sowohl eine inhaltliche und
zeitgeschichtliche Betrachtung des Konfuzianismus als auch
vergleichende Analysen konfuzianischer Klassiker. Darüber hinaus
erfolgt neben einer kurzen Einführung in Kants Theorie der
moralischen Religion eine Betrachtung von Forschungsergebnissen
zu Konfuzianismus und abendländischer Philosophie.
Die Grundlagen
Die Begriffe Konfuzianismus, Religion und Humanismus entstammen
zwar ursprünglich dem europäischen Kulturraum, doch sie haben
sich im Zusammentreffen der chinesischen Kultur mit dem
westlich-abendländischer Denken – also etwa ab dem 17.
Jahrhundert – auch in China etabliert. Es waren im Wesentlichen
Jesuiten, die sich ab dem späten 16. Jahrhundert, vor allem aber
im 17. Jahrhundert dem chinesischen Reich und seiner Kultur
zuwandten, um das Christentum dorthin zu tragen. So ist der Name
Konfuzius die von Jesuiten im 17. Jahrhundert latinisierte Form
von K'ung-fu-tzu, was so viel bedeutet wie Lehrmeister K’ung.
Die erste (bekannte) Übersetzung seiner Lehre ins Lateinische
erfolgte im Jahr 1687 durch den Jesuitenpater Prospero
Intorcetta.

Konfuzius lebte etwa von 551 bis 479 v.Chr. im Gebiet der
heutigen Provinz Shandong, ist also im Gegensatz zu Laozi (auch
Laotse oder Lao-Tse geschrieben), dem – wahrscheinlich –
mythischen Urvater des Daoismus, eine historische Gestalt.
Anliegen und Hauptthema seiner Lehren war das friedvolle
Zusammenleben der menschlichen Gemeinschaft in Harmonie mit dem
gesamten Kosmos. Dies sah er vor allem durch die Achtung vor
„dem Menschen“ und durch die Ahnenverehrung gewährleistet, die
auf den fünf Tugenden Menschlichkeit, Gerechtigkeit, ethisches
Verhalten, Weisheit und Güte beruhen.
Dabei spielten weitgreifende verbindliche Vorgaben moralischen
Verhaltens eine entscheidende Rolle, allen voran die Regelung
der “fünf menschlichen Beziehungen“. Diese gaben Anweisungen für
die Beziehung zwischen Herrscher und Untertan, zwischen Vater
und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen älterem und jüngerem
Bruder und zwischen Freund und Freund. Das jeweilige Verhalten
sollte durch die Kardinaltugenden Gehorsam und Menschlichkeit
geprägt sein, wobei – mit Ausnahme der Freund-Freund-Beziehung –
der oder die Zweitgenannte dem jeweils Erstgenannten Gehorsam
schuldet. Als Ideal strebte die Lehre den „edlen Menschen“ an,
einen, der sich moralisch einwandfrei, gleichmütig und aufgrund
der Befolgung festgelegter Riten in harmonischer Übereinkunft
mit seiner Umgebung und der allumfassenden Weltordnung verhält.
So sollten Idealzustände in Staat und Gesellschaft erreicht
werden.
Ein für die damalige Zeit bemerkenswerter Aspekt lag darin, dass
Herrschaft damit – theoretisch jedenfalls – nicht mehr auf
Abstammung und Adel fußte, sondern sich durch Wissen und
moralische Integrität legitimieren sollte. In der Praxis
allerdings wurde das aber vielfach durch Korruption
konterkariert. Dies umso mehr, je weiter sich aus den beiden
Meta-Geboten im Lauf der Jahrhunderte ein kompliziertes Geflecht
von Vorschriften und Ritualen des politischen und
gesellschaftlichen Lebens entwickelte. Zudem setzte die
notwendige Bildung ein immenses Lernpensum mit großem
Zeitaufwand und damit auch einen gewissen Wohlstand voraus.
Das förderte nicht zuletzt ein elitäres Bewusstsein. Denn der
Konfuzianismus unterschied im Laufe seiner Entwicklung immer
stärker zwischen dem "Edlen, Wissenden“ und dem "Gemeinen", der
belehrt und geführt werden muss. Hinzu kam, dass das
Erklärungsmonopol zunehmend hin zum Staat verlagert wurde und
der jeweilige Herrscher schließlich seit der Han-Zeit
professionelle Gelehrte, die als Staatsbeamte dienten, über die
korrekte Auslegung und Befolgung der mittlerweile kanonisierten
Schriften befinden ließ.
Die Wirkung dieser Tradition setzte sich bis in jene politischen
Strömungen und Programme fort, die China 1911 zur Republik und
1949 zur Volksrepublik führten. Sun Yatsen beispielsweise
beschrieb in seinen "Drei Volksprinzipien" den Weg zum
Verfassungsstaat in drei Phasen: Am Anfang eine Militärdiktatur,
um die verfeindeten Herrscher in den Provinzen zu besiegen und
die staatliche Einheit herzustellen. Dann eine
"Erziehungsdiktatur", auch Vormundschaftsregierung genannt, um
das Volk in einer sechsjährigen Periode zur richtigen Ausübung
seiner politischen Rechte zu erziehen, und erst dann schließlich
die Bildung eines Verfassungsstaates.
Menscheinfeindliche Feudalideologie
Kritik am Konfuzianismus gab es bis zu einem gewissen Grad zwar
zu allen Zeiten, wirklich substanzielle Ablehnung formierte sich
aber erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Er wurde
zunehmend als „konservative Feudalideologie“ angesehen. Nach dem
demütigenden Frieden von Shimonoseki mit Japan (1895) etwa
setzte Kaiser Guangxu in der "Reform der Hundert Tage" 1898 ganz
auf eine westliche Orientierung Chinas, um das Land in die
Moderne zu führen und konkurrenzfähig mit der
westlich-imperialistischen Welt zu machen. Seine Absicht wurde
allerdings von der Kaiserinwitwe Cuxi konterkariert.
Mao Zedong (auch: Mao Tse-tung) wetterte zu Beginn seiner
politischen Laufbahn mit der Parole "Zerschlagt den Kramladen
des Konfuzius", die aus der antijapanisch, antiwestlich
orientierten studentischen "Bewegung des 4. Mai" von 1919
stammte, gegen den Konfuzianismus als eine reaktionäre
Rechtfertigungsideologie der zweitausendjährigen
Kaiserherrschaft. Jahre später, 1938, sprach er dann jedoch von
einer "Sinisierung des Marxismus", die aus der
Auseinandersetzung mit dem Denken und den Erfahrungen "von
Konfuzius bis Sun Yatsen" erwachsen sei. Was allerdings, so Lee,
in den 1950er Jahren wieder aus der offiziellen Werkausgabe
gestrichen wurde. 1958 soll er sich in seiner Parteitagsrede
gerühmt haben: "Der Erste Kaiser der Qin hat nur 460
konfuzianische Gelehrte lebendig begraben, wir haben 46 000
begraben." Zur Zeit der Kulturrevolution (ca. 1966 – 1974) wurde
die Geschichte Chinas als Kampf zwischen Konfuzianismus und
Legalismus interpretiert. Doch da die Kommunistische Partei
nicht nur im Klassenkampf agierte, sondern auch immer äußerst
nationalbewusst war und noch ist, wurde Konfuzius, zumindest
partiell, schon bald nach Mao wieder als Aushängeschild der
chinesischen Kultur „reanimiert“.
Unabhängig von wechselnden politischen Verhältnissen galten aber
nicht nur Konfuzius’ moralische Lehren, sondern auch seine
eigene Lebensweise in weiten Teilen des Landes und zu allen
Zeiten als mustergültig. Bemerkenswert dabei ist, dass es –
ähnlich wie bei Sokrates – keine Originaltexte des Konfuzius,
sondern ausschließlich Aufzeichnungen und Kommentare seiner
Schüler und Nachfolger gibt. Dabei führten Tradierung und
Interpretation seiner Lehren – mehr oder minder zwangsläufig –
zu einer konzeptionellen Weiterentwicklung.
Ist der Konfuzianismus eine Form des Humanismus?
Diese Frage ist nur bedingt zu beantworten, da dabei die vage,
durchaus nicht deckungsgleiche Definition des Begriffes
Humanismus in ihrem Ursprungsbereich, also der europäischen
Geistesgeschichte, zu berücksichtigen ist. Der britische
Historiker Alan Bullock beispielsweise unterscheidet drei Modi
des Verhältnisses von Mensch und Kosmos: einen transnatürlichen
oder transzendentalen Modus, in dessen Mittelpunkt Gott steht
und der Mensch als Teil der göttlichen Schöpfung verstanden
wird; einen naturalistischen oder wissenschaftlichen Modus, in
dessen Zentrum die (evolutionäre) Natur und der Mensch als Teil
dieser natürlichen Ordnung stehen; und schließlich einen
humanistischen Modus, in dessen Zentrum der Mensch steht und der
die menschliche Erfahrung als ausreichendes Mittel ansieht, um
damit sowohl den Menschen selbst als auch Gott sowie die gesamte
Natur erforschen und verstehen zu können.
Wie Lee zeigt, neigen die chinesischen Denker ziemlich einmütig
der letztgenannten Variante zu und sehen darin zudem – sehr
selbstbewusst – den Nachweis, dass schon früh, also vor dem
Zeitalter des europäischen Humanismus, von einem chinesischen
Humanismus gesprochen werden kann. Dieser unterscheide sich
allerdings deutlich – und nach ihrer Ansicht vorteilhaft – von
den meisten westlichen Strömungen. So zitiert Lee aus einem 1969
veröffentlichten Werk des Philosophen Xu Fuguan (1903-1982):
„Die Entfaltung der chinesischen Kultur war erfolgreich, weil
sie weder Gott in den Mittelpunkt gestellt hat noch die Natur,
sondern den Menschen. Von daher scheint nichts dagegen zu
sprechen, die chinesische Kultur als humanistische Kultur zu
bezeichnen. Das Wort Humanismus ist jedoch mit Assoziationen an
den europäischen Humanismus seit dem 15. Jahrhundert verbunden,
die sehr leicht zu Missverständnissen führen können.“
Die Kant-Rezeption in China – geistige Brücke nach Fernost
Eine Geistesverwandtschaft erkennen dagegen die meisten mit dem
Konfuzianismus befassten Wissenschaftler mit dem Idealismus, und
da vor allem mit dem deutschen Idealismus, von Kant bis Hegel.
In der Philosophie Kants sehen sie einen Gleichklang zum
chinesischen Humanismusverständnis, so dass eine bevorzugte
Übersetzung „humanistic idealism“ lautet.
Folgerichtig wirft der von Lee mehrfach zitierte Tang Junyi
(1909-1978) dem im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert
entstandenen westlichen „Neuhumanismus“ vor, dass er der von ihm
hervorgebrachten an sich richtigen Idee einer „vollständigen
Person“ – im Gegensatz zu Kant – den „kritischen Geist der
Philosophie, den praktischen Geist der Moral und den glaubenden
Geist der Religion“ vorenthalten zu haben:
„Insbesondere die Philosophie Kants vermag gleichermaßen das
Subjekt der Erkenntnis, das Subjekt der Moral sowie das Subjekt
als Quelle von ästhetischen Urteil und künstlerischer Schöpfung
zu berücksichtigen. Allerdings bildet die Philosophie Kants,
Fichtes und Hegels keine Einheit mit dem neuhumanistischen
Denken, und obwohl sie manchmal als Humanismus bezeichnet worden
sein mag, wurde ihre Philosophie, die … das größte Gewicht auf
die menschliche Vernunft und den menschlichen Geist legt, von
anderen wie von ihnen selbst als Idealismus bezeichnet.“
Unzweifelhaft, wenn auch Europäern oft nicht geläufig, fand die
Philosophie Kants in China schon recht früh eine äußerst
interessierte und wohlwollende Aufnahme. Sie beginnt etwa Mitte
des 19. Jahrhunderts und lässt sich grob in drei Phasen
einteilen. Besonders prägnant hat Mou Zongsan (1909-1995), ein
führender Vertreter der „dritten Phase“, die innere
Verwandtschaft von Kantscher Philosophie und konfuzianischem
Denken durch einen systematischen Vergleich beider Denkgebäude
belegt, und zwar mit dem ausgewiesenen Ziel, die Kantsche
Philosophie als Vermittlungsinstanz zwischen westlichem und
chinesischem Denken, das sich in den drei Säulen Konfuzianismus,
Buddhismus und Daoismus manifestiert, einzuführen.
Mou Zongsan bescheinigt dem westlichen Humanismus des späten 18.
und frühen 19. Jahrhunderts, der sich parallel, aber nicht
deckungsgleich mit dem deutschen Idealismus entwickelt habe, den
Fehler, auf die hohe Inspirationskraft und den moralischen Geist
der Religion verzichtet zu haben. Mou und viele Gelehrten vor
ihm erkennen im Konfuzianismus einen Humanismus, der nicht im
Gegensatz zur Religion steht.
Kants moralische Religion und die immanente Transzendenz des
Konfuzianismus
Das zieht zwangsläufig die Frage nach sich, ob es sich beim
Konfuzianismus sogar um eine Religion handelt. Zunächst ist
dabei zu beachten, dass einer der zentralen Begriffe des
konfuzianischen Weltbildes die Ordnung, auch und gerade die
gesellschaftlich-pollitische Ordnung, war und ist. Insofern und
aufgrund der eingangs angesprochenen geschichtlichen Entwicklung
lässt sich die Lehre durchaus auch als eine Art Sozialsystem
einordnen. Zudem unterscheidet sich die Bedeutung des Begriffes
Religion im chinesischen Kulturraum – und besonders im Bezug auf
den Konfuzianismus – deutlich vom allgemeinen westlichen
Verständnis. So liegt dem Konfuzianismus beispielsweise jegliche
Offenbarung völlig fern. Stattdessen entspringen nach dieser
Auffassung alle moralischen Vorgaben und Handlungen einer
immanenten Transzendenz, die zu erkennen und zu leben weise
Menschen fähig sind.
Es ist jedoch genau diese Annahme einer immanenten Transzendenz,
die für einen sehr weit gefassten Religionscharakter spricht.
Gelehrte, wie Tang Junyi und Mou Zongsan, sehen das Wesen der
Religion in der „Einheit von Himmel und Mensch“. Dies wird
dargestellt in dem bipolaren Spiel zwischen den zwei Urkräften,
dem männlichen Yang und dem weiblichen Yin. Auch die Verehrung
der drei Riten – Verehrung des Himmels, Verehrung der Ahnen,
Verehrung der heiligen und weisen Menschen – weist religiöse
Züge auf.
Dabei ist zu beachten, dass sich die Vorstellung von Himmel im
Lauf der Jahrhunderte gewandelt hat. So verstand das chinesische
Altertum Himmel durchaus im Sinne einer personalen
transzendenten Instanz, eines personalen Gottes. Vor allem durch
die Lehren des Konfuzius jedoch begann eine Transformation,
indem die Transzendenz gleichsam verinnerlicht, also der
menschlichen Natur und deren moralischem Potenzial immanent
zugesprochen wurde. Wobei der personale Charakter von
Transzendenz mehr in den Hintergrund trat, bemerkenswerterweise
aber nie eindeutig verneint wurde. Auch wenn in der Lehre Himmel
und Mensch zunehmend zur Einheit verschmolzen, so schlossen sich
Transzendenz und Immanenz jedoch gegenseitig keineswegs aus.
Lee: „Die Religiosität des Konfuzianismus geht von der Einheit
zwischen Immanenz und Transzendenz aus (oder von immanenter
Transzendenz) aus, während die Religiosität des Christentums
deren Trennung voraussetzt.“ Im Kontext dieses Buches hebt der
Autor die von zeitgenössischen chinesischen Gelehrten
weitestgehend unumstrittene Ansicht hervor, „dass der
Konfuzianismus eine moralische Religion im Kantischen Sinn ist
und dass es sich hier um einen Humanismus mit religiöser
Dimension handelt – im Unterschied zum ,säkularen Humanismus’
des Abendlandes“.
Dabei wird auf die klar erkennbaren Parallelen zu Kants
religionsphilosophischen Werk „Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft“, in dem er den Religionsbegriff auf
die Grundlage der „Vernunftreligion“ bzw. des „moralischen
Glaubens“ stellt, verwiesen. Kant charakterisiert hier die Idee
der Freiheit, die Idee der Unsterblichkeit der Seele und die
Idee Gottes als unbeweisbare, aber notwendige Postulate der
Vernunft. Allerdings sieht er als Ziel der Vernunftreligion
nicht primär die Erlösung oder andere Belohnungen für eine gute
Lebensführung an, sondern allein den moralischen Lebenswandel
selbst, also die – permanente – Durchsetzung des „Guten“ gegen
das „Böse“. Auch in der von Kant postulierten Autonomie der
praktischen Vernunft, die zu einem unbedingten Sittengesetz
führt, wird eine Wesensverwandtschaft zu der immanenten
Transzendenz des Konfuzianismus gesehen.
Einige Berührungspunkte
Zweifellos bestehen zwischen der christlichen Lehre und den
Ideen Kants und in noch stärkerem Maß zwischen Christentum und
den Denksystemen chinesischer Philosophen essenzielle
Unterschiede. Dennoch sollten einige wenige Berührungspunkte
nicht unerwähnt bleiben. So heißt es beispielsweise bei Matthäus
7,12: „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen
behandelt werden wollt – das ist es, was das Gesetz und die
Propheten fordern.“ Zweifellos ein Anspruch, der sich wie eine
Vorlage zu Kants Kategorischem Imperativ anhört. Und bei den
christlichen Mystikern finden sich Gedankengänge, die durchaus
die konfuzianische Verbindung von Immanenz und Transzendenz
berühren. Teresa von Avila etwa formulierte es so: „Meint ihr
wohl, es sei für die zerstreute Seele von geringer Wichtigkeit,
… zu wissen, dass sie nicht erst zum Himmel aufsteigen braucht,
um mit ihrem ewigen Vater zu reden und seiner sich zu erfreuen?
... Um ihn zu suchen, bedarf es keiner Flügel; sie braucht nur
einsam in ihr Inneres zu blicken, wo sie ihn finden wird.“ Und
Ignatius von Loyola wird der Rat zugeschrieben: „Vertraue so auf
Gott, als ob der Erfolg der Dinge allein von dir und nicht von
Gott abhinge; dabei aber gib dir alle Mühe (zuzugestehen), dass
du selbst nichts, Gott allein aber alles vollbringen werde" (Sic
Deo fide, quasi rerum successus omnis a te, nihil a Deo penderet;
ita tamen iis operam omnem admove, quasi tu nihil, Deus omnia
solus sit facturus). Auch diese anscheinend widersprüchlich
unsinnige Aufforderung entspringt einer Annahme von immanenter
Transzendenz, wobei allerdings weder Ignatius von Loyola noch
Teresa von Avila den geringsten Zweifel an der Existenz eines
personalen Gottes hegten.
„Konfuziusfieber“
Im zeitgenössischen Geistesleben Chinas, und zwar auch und
gerade dem der Volksrepublik China, ist ganz offenbar eine
regelrechte Konfuziuskonjunktur erwachsen, die sich in
zahlreichen Tagungen und in der vermehrten weltweiten Gründung
von Konfuzius-Instituten manifestiert. Dafür haben sich Begriffe
wie Guoxue (= Nationalstudien oder nationale Gelehrsamkeit, wozu
vorrangig der Konfuzianismus gehört) und „Guoxue re“ (=Guoxue-Fieber)
etabliert. Etwa seit den 1990er Jahren nahm diese Entwicklung an
Fahrt auf. Aktueller Widerspruch regt sich allerdings ebenfalls,
und zwar auch jenseits marxistischer Fundamentalopposition. Zu
den Kritikern des Neo-Konfuzianismus zählt nicht zuletzt der
bekannte Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo,
Jahrgang 1955, ehemals Dozent an der Pädagogischen Universität
Peking und Präsident des chinesischen PEN-Clubs unabhängiger
Schriftsteller, der 2009 wegen zahlreicher Protestaktionen gegen
die chinesische Regierungspolitik zu elf Jahren Haft verurteilt
wurde.
Wer sich mit dem Thema des zeitgenössischen Konfuzianismus
weitergehend beschäftigen möchte, findet in dem Buch von Lee
Ming-huei eine hervorragende Einstiegsmöglichkeit. Es bietet die
Möglichkeit, sich bis zu einem beachtlichen Grad selbst einen
Eindruck dieses komplexen Gebietes zu verschaffen. Und das vor
allem, indem es Zugang zu drei Themen eröffnet: erstens zu dem
Begriff des Humanismus, indem er das chinesische
(konfuzianische) und das abendländische Verständnis vergleicht;
zweitens zum Begriff des „konfuzianischen Humanismus“, indem er
eine Reihe klassischer konfuzianischer Texte ausführlich
vorstellt und erörtert; und drittens zur (hierzulande weithin
unbekannten) Kant-Rezeption in China und der besonderen
Bedeutung von Kants Philosophie für die Selbsttransformation des
„Modernen Neukonfuzianismus“. Die vom Autor bekundete Absicht,
westliche Leser „mit der philosophischen Interpretation
chinesischer Kultur vertraut zu machen und jenen Prozess der
Selbsttransformation besser zu verstehen, den sie im Zuge der
chinesischen Modernisierung erfahren hat“, einschließlich des
offiziell weiter geltenden Primats des Marxismus, darf als
gelungen angesehen werden. Und ganz nebenbei bietet sich den mit
der Religionsphilosophie Kants nicht so Vertrauten ein von einem
chinesischen Autor sehr verständlich gebotener Einstieg in
diesen Teil des Kantschen Werkes.
Ming-huei Lee: Konfuzianischer Humanismus
Transkulturelle Kontexte
2013 transcript Verlag, Bielefeld
174 S., kart., 24,80 €
ISBN 978-3-8376-2515-8