Können wir bald das Jenseits ins Diesseits verlegen? Oder zumindest
erfahrbar machen? Es sieht zunächst wie eine rein technische Frage
aus: Mit ausreichend vielen Daten kann bereits heute jedes Lebewesen
auch nach seinem Tod als optische und akustische Simulation virtuell
wieder in Erscheinung gerufen werden und in dieser Form
„weiterleben“. Künstliche Intelligenz (KI) macht’s möglich. Und
ebenso wie viele Religionen verheißt KI damit auch, dass es eine
Daseinsform nach dem Tod und jenseits der körperlichen Existenz gibt.
Bis in alle Ewigkeit? Was für eine Ewigkeit? Was für ein Sein?
Der Mensch sei nicht für die Ewigkeit gemacht, das höre er immer
wieder, äußerte der Transhumanist und Ingenieur José Luis Cordeiro,
der zusammen mit Mateo David Wood das Buch „Der Sieg über den Tod“
geschrieben hat. Doch das hält er für einen überholten Glaubenssatz
und erwidert: Der Mensch ist auch nicht zum Fliegen gemacht. Und
dennoch fliegen wir heutzutage zum Mond. Folgerichtig dürfte es auch
zutreffen, dass in der künftigen Gesellschaft, die in ein paar Jahren
nur noch aus Digital Natives bestehen wird, also Menschen, die mit
den digitalen Medien aufgewachsen sind und jede Menge Daten von sich
hinterlassen, der Umgang mit Tod, Trauer und Erinnerung auch stark
digital geprägt sein wird. Spätestens da stellen sich Fragen nach den
diesbezüglichen Auswirkungen, auch und gerade denen für die Kirche(n)
und deren Lehre(n).
Es ist längst allgemeine Erkenntnis, dass „das Netz“ nichts vergisst.
Daten, die einmal auf die digitalen Bahnen gesetzt wurden, kurven
dort für mehr oder minder alle Zeiten herum. Alle Stationen einer
Biografie, alle Abbildungen und Äußerungen im Netz, alle Community-Beiträge und deren Feedbacks jeder Person sind mehr oder
weniger einfach abrufbar und von Algorithmen entsprechend deren
Programmierung zusammenführ- und bearbeitbar. Selbst dann, wenn das
Individuum damit nicht einverstanden ist. Mit dieser Transparenz
kommt die KI einer Macht nahe, die bisher nur Gott zugesprochen
wurde.
Gott – der Ewige, Allmächtige und Allwissende, der vor aller Zeit war
und nach aller Zeit sein wird. Der „Himmel und Erde erschaffen hat“.
Dem nichts von allem Existenten verborgen bleibt. So wie etwa im
Johannes-Evangelium (2:24-25) bekundet wird, dass Jesus es nicht
nötig hatte, „dass ihm jemand Zeugnis gab vom Menschen; denn er
wusste, was im Menschen war“. Soweit das christliche Verständnis von
Gott und seiner Allmacht. Doch kein Anleinstellungsmerkmal mehr? Denn
scheinbar weiß auch die KI jetzt – oder zumindest sehr bald – alles,
„was im Menschen“ ist. Für die Wissenschaftler Ayad Al-Ani, u.a.
assoziiertes Mitglied des Einstein-Zentrums „Digitale Zukunft“ in
Berlin, und Martin Lätzel, Direktor der Schleswig-Holsteinischen
Landesbibliothek, bildet Künstliche Intelligenz daher bereits Aspekte
göttlicher Macht ab. In der Zusammenarbeit zwischen Menschen und
Technologie, „welche zielgerichtete Ansprachen, Interpretationen und
auch das Erleben von Transzendenz beinhaltet“, werde die Technologie
ob ihrer Mächtigkeit „die Kräfte Gottes verständlicher machen – und
so zwangsläufig göttlicher werden“.
Wer jetzt ganz schlicht fragt, wohin denn mit den ungeheuren
Datenmengen, die sich notwendigerweise anhäufen werden angesichts der
stetig wachsenden und „ewig lebenden digitalen Bevölkerung“, der
unterschätzt den allgemeinen technologischen Fortschritt. Da werden
Quantencomputer und andere, heute noch in den Kinderschuhen steckende
Technologien für Abhilfe sorgen. Etwa das gerade sich entwickelnde
Speichermedium aus silikatbasiertem Glas. Doch viel ausschlaggebender
ist ein anderer Gesichtspunkt. Das ist die Tatsache, dass eine
gründliche Strukturierung und Filterung der überbordenden
Informationsflut notwendig ist und zukünftig erst recht sein wird.
Eine Arbeit, die bekanntlich von Algorithmen geleistet wird. Das
bedeutet auch, dass Algorithmen immer stärker in unser tägliches
Leben eingreifen werden. Doch diese immer mächtiger werdenden
Instrumente sind weder wertfrei noch neutral. Sie funktionieren gemäß
der Dateneingabe und Absicht derjenigen, die sie programmieren – und
damit bestimmten weltanschaulichen, politischen oder wirtschaftlichen
Interessen.
Könnte eine solche interessenbasierte Unsterblichkeit das Versprechen
eines ewigen Lebens erfüllen, wie es etwa das Christentum verheißt?
Oder ist es vielmehr eine Illusion, die die spirituelle Tiefe und den
metaphysischen Aspekt übergeht? Bisher jedenfalls sind die
spektakulären Versprechen der angekündigten digitalen Paradiese –
angefangen etwa bei den Krypto-Geld-Vermehrern, den Sprachbots und
den NFTs bis hin zu den Parallelwelten des Second Life und des
MetaVerse – (nicht nur) nach Ansicht des Publizisten und
Trendforschers Matthias Horx gescheitert oder zumindest an ihre
Grenzen gestoßen. „Semantische KI kann eigentlich keine wirklichen
Probleme lösen. Sie kann weder Informationen besser auslesen, denn
sie hat kein Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit, die Irrtümer
korrigieren könnte. Noch kann sie Kreativität ermöglichen. Sie kann
all das nur simulieren, was sie zu „tun“ vorgibt“, so Horx. Für ihn
handelt es sich bei der KI um einen Mythos, „ein Paradox; das, was
der Systemforscher Niklas Luhmann einen Kategorienirrtum nennt“.
Allerdings: 2001 prognostizierte Horx auch, dass sich das Internet
auf absehbare Zeit nicht zu einem Massenmedium entwickeln werde.
Gekommen ist es bekanntlich anders.
Können Algorithmen also vielleicht doch die Stelle Gottes einnehmen?
Im christlichen Verständnis ist ewiges Leben etwas mehr als das
Fortbestehen des Bewusstseins und der optischen Erscheinung; es ist
eine andere, transzendente Existenz, die über das hinausgeht, was
Technologie bieten kann. Jedoch – und darauf stoßen uns die gerade
die Algorithmen – fordert uns die Schnittmenge von KI, Religion und
ewigem Leben dazu heraus, unsere Vorstellungen von Bewusstsein,
Spiritualität und Unsterblichkeit neu zu überdenken. Es gibt allen
Grund, neu über Gott nachzudenken, so wie es auch Bischof Dr. Georg Bätzing immer wieder betont: "Unser Sprechen von Gott wird sich
verändern müssen, dringend… Wir tun ja als Kirche immer noch so, als
wüssten wir eindeutig, wie Gott ist und was er von uns erwartet. Doch
in weiten Teilen haben unsere Bilder von Gott und unser Reden über
ihn den Anschluss an das Wissen unserer Zeit verloren." Allerdings!
Das kann gar nicht oft genug gesagt werden.
Aber: KI, Virtuelle Realität und Augmented Reality sind keineswegs
unsere „Feinde“. Sie können durchaus sinnvolle Dimensionen eröffnen,
auch in der Seelsorge – etwa neue Formen des Meditierens, Betens und
spirituellen Lernens ermöglichen, auch helfen, Menschen in Not zu
unterstützen. Es liegt auch an uns, Richtlinien zu entwickeln, die
bewirken, dass KI im Einklang mit unseren ethischen und spirituellen
Werten eingesetzt wird.