Dass das so ist, liegt auch und besonders an dem Gottes- und
Weltbild, das – auch im Christentum – immer noch weitgehend auf
alttestamentarischen Vorlagen beruht. Und die sind geprägt durch
die in ihrer Entstehungszeit, dem ersten Jahrtausend vor Christus,
typischen vorderasiatischen Herrscherfiguren. Ihnen wurde mit Pomp,
Blumenteppichen und Jubelchören gehuldigt. Aus den sprichwörtlichen
Jubelpersern sind im Alten Testament dann die Seraphine und Cherubine
geworden, die ihrem Herrscher, also Gott, mit ihrem Huldigungen „ohn
Unterlass“ die Ehre erweisen. Doch in unserer (natur-)wissenschaftlich
basierten Zeit können die meisten Menschen mit einer solchen
Typisierung Gottes nicht mehr viel anfangen, auch wenn diese
Typisierung durch das von Jesus begründete Vaterbild bereits variiert
wurde. Kosmologie, Biologie und Neurowissenschaften haben viele
Fragen beantwortet, die früher nur durch religiöse Erklärungen
greifbar schienen. Und mittlerweile ist das, was seit längerem
bereits von etlichen Theologen diskutiert wird, auch in einigen
offiziellen Führungskreisen angekommen.
So weist der hier schon mehrfach zitierte Bischof Dr. Georg
Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, immer wieder
auf die Dringlichkeit einer Änderung unser Gottesverständnisses hin.
„Unser Sprechen von Gott wird sich verändern müssen, dringend… Wir
tun ja als Kirche immer noch so, als wüssten wir eindeutig, wie Gott
ist und was er von uns erwartet. Doch in weiten Teilen haben unsere
Bilder von Gott und unser Reden über ihn den Anschluss an das Wissen
unserer Zeit verloren.“ Genau das ist eine, wenn nicht sogar die
zentrale Herausforderung für die Kirche(n): die Notwendigkeit, den
Glauben an neue Erkenntnisse und gesellschaftliche Entwicklungen
unserer Zeit anzupassen, ohne dabei seine essenzielle Bedeutung zu
verlieren. Diesbezügliche Ansätze und - teilweise widersprüchliche –
theologische Konzepte gibt es längst.
Hans Küng, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts,
betonte schon in seinem 1974 erschienenen Werk „Christ sein“, dass
der Glaube nicht in Dogmen erstarren darf, sondern sich an Jesus
selbst orientieren muss. Er forderte eine Theologie, die sich auf den
ursprünglichen Kern des Christentums konzentriert: Nächstenliebe,
Gerechtigkeit und eine lebendige, offene Glaubenspraxis. Was durchaus
auch einschließt, dass Jesu Vorbildfunktion und überlieferte Lehre
sogar dann ihre Gültigkeit besäßen und behielten, wenn er auf sein
Menschsein reduziert würde.
So wie etwa der Philosoph und Theologe Christoph Türcke in
seinen Werken immer wieder die Frage stellt, warum Jesus nicht
einfach als außergewöhnlicher Mensch gesehen werden kann – statt als
Gottes Sohn. Er argumentiert, dass die Vorstellung von Jesus als
Gottes Sohn eher eine Konstruktion kirchlicher Dogmen sei. Historisch
betrachtet sei er viel eher als radikaler ethischer Lehrer und
gesellschaftskritischer Prophet zu sehen und zu verstehen.
Teufel, Sünde, Schuld, das Böse – diese einerseits in der
offiziellen Lehre so stark verankerten, andererseits vielen Menschen
so weitgehend fremd gewordenen Begriffe – was bedeuten sie überhaupt
noch? „In der Geschichte haben die christlichen Kirchen das Böse
oft als individuelle Schuld oder moralisches Versagen definiert.
Dabei haben sie das strukturelle Böse wie soziale Ungerechtigkeit,
Missbrauch, Gewalt und Krieg nicht nur übersehen, sondern zum Teil
sogar legitimiert“, so der amerikanische Franziskanerpater Richard
Rohr. Reife Religion dagegen müsse anleiten, die vielen
Verkleidungen des Bösen zu durchschauen. Was besonders mit
Kontemplation und vergebender Liebe erreicht werden könne. Womit Rohr
in eine Richtung weist, bei der die Mystik und eine
nicht-dualistische Gotteserfahrung von Bedeutung sind.
Und hier findet er sich im Hinblick auf die Mystik, die von Anfang
an zum Christentum gehörte und im späten Mittelalter eine erste Blüte
erlebte, durchaus in der Nachfolge des großen Theologen Karl Rahner,
der den (umstrittenen) Begriff des „anonymen Christen“ prägte und
schon vor über sechzig Jahren argumentierte, dass sich das
Christentum in einer neuen Epoche befinde und daher Glaubensformen
neu gedacht werden müssten. Auch deshalb, weil viele Menschen sich
mehr nach eigenen spirituellen Erfahrungen sehnten. Bereits 1966
schrieb er: "Der Fromme von morgen wird ein 'Mystiker' sein, einer,
der etwas 'erfahren' hat, oder er wird nicht mehr sein." Dieser viel
zitierte Satz war nicht nur Weckruf zu einer „anthropozentrischen
Wende“ der Theologie. Er spiegelt auch das Bedürfnis vieler
Zeitgenossen nach einer jenseits der Kirchen verorteten spirituellen
Urkraft.
Vor allem aber setzt sich auch bei vielen den Kirchen noch
verbundenen Gläubigen immer mehr die Überzeugung durch, dass ein „interventionistisches“
Handeln Gottes in der Welt, also ein aktives Eingreifen in das
Weltgeschehen, nicht gegeben ist. Und, wie etwa der Theologe
Christoph Böttigheimer darlegt, auch theologisch nicht zu
begründen ist. Selbst ein Bittgebet zielt demnach nicht auf ein
direktes Eingreifen Gottes als vielmehr darauf ab, die Betenden auf
Gott hin auszurichten. Und diese Ausrichtung kann dann durchaus durch
entsprechendes Handeln zu einem zufrieden stellenden Ergebnis führen.
Ein Handeln der „mystischen und politischen Theologie“, wie es die
Theologin Dorothee Sölle forderte, das Spiritualität mit sozialem
Engagement verbindet. So wie auch der Theologe Jürgen Moltmann
in seiner „Theologie der Hoffnung“ eine wesentlich stärkere Bedeutung
von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortlichkeit im
christlichen Glauben anmahnt. Was alles letztendlich aber heißt,
dass die Menschen für das Wohl und Wehe der Welt selbst zuständig und
allein verantwortlich sind.
Der traditionelle Glaube und die kirchlichen Dogmen mit ihren
scheinbar unverrückbaren Wahrheiten gehen in ihrer derzeitigen Form
wohl mehr oder minder ihrem Ende entgegen. Bischof Bätzings
Appell, das Sprechen über Gott zu verändern, ist eine fundamentale,
längst überfällige Richtungsweisung von „offizieller“ Seite. Und wie
hier mit wenigen Beispielen kurz skizziert, gibt es längst ernst zu
nehmende, wenn auch teilweise unterschiedliche Überlegungen, dass und
wie es weitergehen könnte. Ganz abgesehen von dem, was uns die KI
demnächst wahrscheinlich noch bieten wird. Es gilt auch hier und
heute: Prüft alles und behaltet das Gute! (Paulus, 1 Thess 5,21).
Die philosophische Perspektive Kants zeigt zudem, dass der Glaube
nicht nur eine religiöse, sondern auch eine existenzielle Frage ist.
Von den berühmten vier Fragen Kants ist besonders die dritte – Was
darf ich hoffen? – eng mit der religiösen Dimension verbunden. Dabei
kommt Kant zu dem Schluss, dass der Mensch zwar keine absolute
Gewissheit über das Göttliche haben kann, aber dennoch eine
begründete Hoffnung auf moralische Sinnhaftigkeit und eine höhere
Ordnung hegen darf. Dass also Glaube und Vernunft sich gegenseitig
ergänzen können.