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Urs Widmer Das Buch des Vaters Roman, 2004 Leinen, 224 Seiten
Diogenes
Verlag
AG
Zürich
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Urs Widmer: Das Buch des Vaters
Bibelfester Atheist hinter Mauern aus Büchern
Von Christa Tamara Kaul - 2004
Das Buch des Vaters - die Aufzeichnung eines Lebens. In ihm hat Karl, der Vater, der Mann der schönen Clara Molinari, niedergeschrieben, was er erlebt und gedacht hat und wie er empfand, was er erlebt hat. Ob ein solches Buch allen Kindern zu wünschen ist? Damit sie später einmal, nach dem Tod der Eltern, wenn sie es lesen dürfen, mehr über ihre Eltern und damit über sich selbst erfahren?
In dem Schweizer Dorf, aus dem der Vater stammt, gehörte es seit Jahrhunderten zur Tradition, dass jedes Kind bereits bei seiner Geburt einen Sarg erhält, der dann bis zum Tod vor seinem Haus stehen wird, und an seinem zwölften Geburtstag, an dem es mit einer Initiationsfeier als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft aufgenommen wird, ein Lebensbuch überreicht bekommt, einen in schwarzes Leder gebundenen Band voll leerer weißer Seiten mit Goldschnitt. Ab diesem Geburtstag gilt es, ein Leben lang das Wichtige eines jeden Tages zu notieren.
Also schreibt der Vater von seinem zwölften Geburtstag an Abend für Abend, gewissenhaft, mit winzig kleinen Buchstaben, bis zu seinem letzten Lebenstag. Doch als er gestorben ist, hat die Mutter, Clara Molinari, nichts Eiligeres zu tun, als seine Sachen so schnell wie möglich wegzuschaffen, und damit landet auch des Vaters Lebensbuch unwiederbringlich auf dem Müll.
Daher entschließt sich der Sohn, das Leben des Vaters noch einmal nachzuschreiben, und er erzählt über des Vaters Kindheit und Jugend in der bodenständigen Geborgenheit des Schweizer Kleinbürgertums, über seine erste Bekanntschaft mit kommunistischem Ideengut und nationalsozialistischer Gesinnung, wie er sich einer Gruppe kommunistischer Intellektueller und Künstler anschließt, in verräucherten Gaststuben bis in die Nächte hinein heiß diskutiert, wie er schließlich, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, tatsächlich Mitglied der Partei wird und dann, angesichts von Stalins Terror, schon bald nach dem Krieg wieder austritt.
Wir werden Zeugen eines gleichermaßen unspektakulären wie ungewöhnlichen Lebens, das zum Anfang des letzten Jahrhunderts begann und durch alle Wirren bis weit in dessen zweite Hälfte währt. Wir lesen von großen Visionen und Plänen, von Irrungen und Enttäuschungen und den trotz aller Rückschläge weiterlebenden Hoffnungen des 20. Jahrhunderts.
Vor allem aber werden wir Zeugen von Karls Liebe zu Büchern, einer Liebe, die schon Besessenheit ist und die seine andere große Liebe, die zu Clara, seiner Frau, der "einen und einzigen" für ihn, in ihrer Rigorosität übertrifft. Auch als später sein Sohn auf die Welt kommt, reicht seine zärtliche Zuneigung zu ihm doch nie wirklich an dieses allumfassende Interesse heran, das er der Literatur entgegen bringt.
Begonnen hat sein leidenschaftliches Verhältnis zur literarischen Welt mit dem Studium der Romanistik. Vor allem die mittelalterlichen Erzählungen von sinnesfrohen Mönchen und Nonnen ergötzten ihn zu jener Zeit mit ihrer prallen Erotik. Doch diese Sinneslust genoss er vornehmlich in den Büchern, weniger im täglichen Leben, wo er sich zwar nicht uninteressiert, doch ziemlich naiv dem anderen Geschlecht zuwandte. Einen unerreichbaren Vorteil besaßen für ihn die Bücher dem Leben gegenüber immer: Er konnte sie jederzeit zumachen, "wenn ihm das Leben in ihnen zuviel wurde." Ein Vorteil, den er sein Leben lang schätzt.
Mehr noch, seine Sammelleidenschaft lässt die Bücher langsam zu Mauern um ihn herum anwachsen, hinter denen er das Geschehen außerhalb nur bedingt wahrnimmt. Nicht dass er lebensuntüchtig oder ungesellig wäre. Er reüssiert in mehreren Berufen, er geht oft mit Freunden aus und führt nach der Heirat mit Clara mit ihrer Hilfe ein offenes, gastfreundliches Haus, in dem man oppulent zu feiern versteht. Auch seine lustvolle und zärtliche Liebe zu Clara ist ihm kostbar und übersteht die Zeit, und dennoch kommt ihm der Realitätssinn zunehmend abhanden. Vor allem fehlt ihm ganz offenbar eine wirklich innere Beziehung zu seiner Frau. Denn nie erschließt sich ihm ihr tragisches Geheimnis, ihre ebenso hoffnungslose wie unauslöschliche Liebe und Leidenschaft zu Edwin Schimmel, dem großen Musiker, für den er letztendlich nur der "Ersatzmann" ist.
Und da der Vater dieses Geheimnis nie ergründet hat, erfahren wir es auch nicht aus dem Buch des Vaters. Doch es gibt noch ein Buch der Mutter mit dem Titel "Der Geliebte der Mutter", in dem der Sohn deren Leben erzählt. In dieser Erzählung, also im Bewusstsein der Mutter, kommt der Vater nur als Randfigur vor.
Dieses Buch-Paar zeigt auf das Feinsinnigste die Geschichte eines Menschenpaares auf eine Art, wie sie bisher in der Literatur noch nicht vorkam. Jedes der beiden Bücher steht in vollkommener Autonomie für sich selbst und ist auch allein sowohl geistiges wie sinnliches Lesevergnügen. Doch zusammen sind sie ein ein in dieser Form neuartiges Meisterwerk psychologischer Beobachtung und sprachlicher Darstellung. Wobei die Sprache mit ruhiger Zurückhaltung, unspektakulärem Witz und kühler Ironie, aber nie mit Häme einen unübertrefflich effektvollen Konterpart zu dem teilweise dramatischen Geschehen bietet. Eine unsentimentale Liebeserklärung an die Eltern und eine literarische Glanzleistung.
Textauszug: Mit Kommunisten kam mein Vater erst in den dreißiger Jahren zusammen. Er war nun auch um die Dreißig und ein junger Intellektueller geworden. Er sah auch so aus; Brille, beginnende Glatze, Zigarette im Mundwinkel. Er rauchte immer, auch wenn er sprach, las oder aß, und seine neuen Freunde, die Kommunisten, fragten ihn, wie er denn schlafe oder küsse. Kein Problem, antwortete mein Vater. Er küsse wenig, und er schlafe noch weniger. Die Freunde rauchten auch, und sie tranken, anders als mein Vater, gern und viel. Sie waren alle Maler - ein einziger von ihnen war ein Architekt. ............. Er war jetzt Lehrer an einem just neu gegründeten Gymnasium, das auf das Altgriechische verzichtete, auch das Latein nicht so intensiv pflegte, wie das das Humanistische Gymnasium tat. Er unterrichtete Französisch, hie und da auch Deutsch. (Gleich zu Beginn wollte ihm der Direktor der Schule auch je zwei Wochenstunden Religion und Turnen andrehen. Aber der Vater, ein Atheist mit einer Kindheit, die ihn bibelfest gemacht hatte, beantwortete jedes Argument des Rektors mit einem Bibelwort, bis dieser aufgab und ihn vom Religionsunterricht entband. Blieb das Turnen. Er gab zwei Lektionen, aber als er die ersten Schwimmstunden mit Mantel und Hut erteilte - er konnte nicht schwimmen -, wurde er auch vom Turnen entlastet.)
Autorenportrait: Urs Widmer wurde am 21.5.1938 in Basel geboren. Seine bildungsbürgerliche Familie und ein literarisch geprägtes Umfeld beeinflussten ganz sicher sein schriftstellerisches Talent: Der Vater war der Gymnasiallehrer, Literaturkritiker und Übersetzer Walter Widmer, der seinem Sohn die »Liebe zu den Wörtern ohne Niveau, den sogenannt unanständigen Wörtern«, weitervererbt hat. Urs Widmers Deutschlehrer im Realgymnasium war der Schriftsteller Rudolf Graber. Heinrich Böll war gern- und oft gesehener Gast im Hause
Widmers
Liste
der
Auszeichnungen
ist
mittlerweile
lang:
1974
erhielt
er
den
Karl-Sczuka-Preis
des
Südwestfunks
Baden-Baden,
1976
den
Hörspielpreis
der
Kriegsblinden
für
›Fernsehabend‹,
1985
den
Preis
der
Schweizer
Schillerstiftung
für
sein
Gesamtwerk.
und
1989
den
Basler
Literaturpreis
für
sein
Gesamtwerk.
1989
folgte
die
Ehrengabe
des
Kantons
Zürich
für
›Der
Kongreß
der
Paläolepidopterologen‹
und
1992
der
Preis
des
Südwestfunk-Literaturmagazins
für
die
Erzählung
›Der
blaue
Siphon‹.
1994
wurde
er
in
die
Deutsche
Akademie
für
Sprache
und
Dichtung
aufgenommen,
und
1995
verlieh
die
Stadt
Zürich
den
Kunstpreis
für
Literatur
für
sein
Gesamtwerk.
Doch
damit
nicht
genug,
es
folgten
1997:
Kunstpreis
der
Gemeinde
Zollikon
für
sein
Gesamtwerk,
1997:
3sat-Innovationspreis
für
das
Theaterstück
›Top
Dogs‹,
1997:
Mülheimer
Dramatikerpreis
für
›Top
Dogs‹.
1997
kürte
ihn
die
Zeitschrift
›Theater
heute‹
für
›Top
Dogs‹
zum
Autor
des
Jahres.
1998:
Heimito
von
Doderer
Literaturpreis
für
sein
Gesamtwerk.
1999:
Aufnahme
in
die
Akademie
der
Künste
Berlin-Brandenburg.
1999:
Kulturpreis
der
Gemeinde
Riehen
für
sein
Gesamtwerk.
Urs Widmer: Das Buch des Vaters. Roman, 2004, Leinen, 224 S.
Diogenes
Verlag
AG,
Zürich
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© Christa Tamara Kaul