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Kindermangel in Deutschland

 

Bevölkerungsökonomische Analysen und familienpolitische Lösungen
 

Von Christa Tamara Kaul    -   Februar  2008

 

 

Der Trend ist ungebrochen: In Deutschland werden immer weniger Kinder geboren. Auch 2006 sank die Zahl gegenüber dem Vorjahr. Wie den Negativfolgen dieses Bevölkerungsschwunds zu begegnen sei, erörtert der Volkwirtschaftler Gunter Steinmann in seinem neuen Buch aus bevölkerungsökonomischer Perspektive. Er präsentiert dabei Lösungsvorschläge, die polarisieren.

Im Jahr 2006 wurden in Deutschland rund 672.700 Kinder geboren, wie das Statistische Bundesamt Anfang September 2007 mitteilte. Das waren 13.100 weniger Geburten als 2005. Das Problem mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen – also warum rund ein Viertel aller Frauen kinderlos bleibt und die übrigen mit durchschnittlich 1,3 Kindern „zu wenig tun“ für die Bestanderhaltung der Bevölkerung – wird auf verschiedenen Ebenen erörtert, in Politik und Wirtschaft ebenso wie in Soziologie, Medizin oder Psychologie. Und nun auch unter bevölkerungsökonomischen Aspekten.

Gleich zu Beginn des Buches betont Steinmann ausdrücklich, dass nur alle Disziplinen zusammen die Wirklichkeit voll erfassen und abbilden könnten, wobei die Bevölkerungsökonomie in diesem Diskurs bislang allerdings zu kurz gekommen sei. Diese Klarstellung dürfte manche beruhigen, denen die rein bevölkerungsökonomische Analyse zu nüchtern, womöglich zu “herzlos“ erscheint. Beispielsweise bei der Betrachtung von individuellem und gesellschaftlichem „Kindernutzen“ oder gar von „Kinderqualität“. Zielgruppe des Buches sind neben Studentinnen und Studenten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften schließlich alle „anderen interessierten Leser“.

Ausgangspunkt ist die allgemeine Analyse von Bevölkerungsabnahme, für die grundsätzlich drei Ursachen infrage kommen: erstens der Mangel an potentiellen Eltern (etwa nach Kriegen oder Epidemien, aber auch durch eine bewusste Entscheidung gegen Kinder), zweitens die Verringerung der Geburtenhäufigkeit (geringere durchschnittliche Fertilität) und drittens eine Verlängerung des Generationenabstands (höheres Durchschnittsalter bei der Geburt der Kinder). Jede dieser Punkte wirkt sich zwar langfristig auf den Bevölkerungsbestand eines Landes aus. Aber der zweite Punkt, also die Geburtenhäufigkeit (durchschnittliche Fertilität) ist die langfristig dominierende Determinante. Und die ist in Deutschland von kontinuierlicher Abnahme gekennzeichnet.

Anhand umfangreichen aktuellen Zahlenmaterials zeigt Steinmann detailliert die zu erwartenden demographischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen auf, also die Auswirkungen der niedrigen Geburtenziffern sowohl auf die sozialen Sicherungssysteme als auch auf voraussichtliche Wirtschaftsentwicklungen, vor allem im Konsum- und Investitionsbereich.

Dabei, wen wundert’s, fallen seine Diagnosen und Prognosen nicht sonderlich positiv aus. Auch wenn der gesellschaftliche Alterungsprozess allein noch nicht zwangsläufig unüberwindbare Probleme für die Rentenversicherung bedeute, so verschärfe sich doch im Kontext mit einem durchschnittlich späten Berufseinstieg, der beispielsweise bei Akademikern 29 Jahre beträgt, und anderen Gegebenheiten die Problemlage deutlich. Was bei der Krankenversorgung aller Voraussicht nach einen deutlichen Anstieg des Beitragssatzes oder weitere Einschränkung der Leistungen bringen werde. Für den Fortbestand der gesetzlichen Pflegeversicherung in ihrer heutigen Form sieht Steinmann wenig Chancen. Und Skepsis bringt er auch der bloßen Umstellung von dem bisherigen Umlageverfahren zu einem kapitalgedeckten Verfahren entgegen. Denn schließlich sei bei einer schrumpfenden Gesellschaft das Risiko eines instabilen Marktes gegeben und damit auch das einer unsicheren Rendite. Was dann fast zwangsläufig zur nicht weniger risikobehafteten Internationalisierung des Kapitals führen würde.

Dies alles ist äußerst aufschlussreich und plausibel – aber nicht neu. Spannend jedoch sind Steinmanns Vorschläge, wie den negativen Konsequenzen der demographischen Entwicklung entgegen zu wirken sei.

Eine „nachhaltige“ Familienpolitik

Dafür sei es zunächst einmal notwendig, von der derzeitigen Ausrichtung der Familienpolitik, die einseitig sozialpolitisch fixiert sei, abzurücken. Es gelte, zusätzlich eine bevölkerungspolitische Komponente gleichrangig einzuführen. Die zukünftige Familienpolitik müsse sowohl bevölkerungspolitische als auch sozialpolitische Aspekte berücksichtigen. Die bisherige Ablehnung oder gar Diffamierung jeder Art von Bevölkerungspolitik sei zwar vor dem Hintergrund des Missbrauchs der Bevölkerungspolitik durch die Nationalsozialisten erklärbar, auf Dauer aber falsch.

Ziel muss es sein, allen Bürgerinnen und Bürgern – und nicht nur den gering Qualifizierten und gering Verdienenden – die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Vor allem müssen die gut ausgebildeten Frauen erreicht werden, die in dieser Hinsicht bisher vernachlässigt wurden. Das sei umso wichtiger, das nicht nur die „Kinderquantität“ (Anzahl der Kinder), sondern auch und vor allem die „Kinderqualität“ (Erziehung und Ausbildung) erhöht werden sollte. Da bei den aktuellen Maßnahmen die Abwägung zwischen „Kindernutzen“ und „Kinderkosten“ für die gut verdienenden Frauen der Mittelschicht ein besonders unvorteilhaftes Verhältnis ergebe, müsse die Kluft zwischen der optimalen Kinderzahl der Haushalte (individuelle Rationalität) und der gesellschaftlich wünschenswerten Kinderzahl (kollektive Rationalität) geschlossen werden.

Dazu werden vorrangig folgende Maßnahmen vorgeschlagen:

  Statt des bisher einheitlichen Kindergeldes die Einführung eines Eltern- bzw. Erziehungsgeldes und zusätzlich ein Familiensplitting bei der Einkommensbesteuerung
  Aufspaltung des bestehenden umlagefinanzierten Alterssicherungssystems in zwei Systeme: ein für alle gültiges umlagefinanziertes staatliches Rentensystem und eine kapitalgedeckte private „Kinderrente“
  Intrafamiliäre Teilsicherung bei der Kranken- und Pflegeversicherung
  Ganztagsschulunterricht und Aufgabenüberwachung
  Keine Erstattung mehr von Abtreibungskosten, stattdessen Übernahme der Kosten für künstliche Befruchtung

Eltern- und Erziehungsgeld:  Die Wendung vom einheitlichen Kindergeld hin zu einem Eltern- und Erziehungsgeld sowie zu einem zusätzlichen Familiensplitting heißt konkret, dass Gutverdiener und Geringverdiener mit unterschiedlichen Angeboten zum jeweils größten Nutzen geführt werden sollen. Ein Familiensplitting ähnlich dem französischen Verfahren würde das Familieneinkommen gut verdienender Paare so erhöhen, dass sich „Kindernutzen“ und „Kinderkosten“ zumindest ausgleichen, während Geringverdiener vom Kindergeld mehr profitieren. Mit dem Elterngeld, das seit Beginn 2007 in Deutschland eingeführt wurde, ist der erste Schritt in diese Richtung erfolgt. Das Ehegattensplitting allerdings steht in der derzeitigen Koalition nicht zur Debatte.

Neue Rentenstruktur. Besonderes Interesse verdienen Steinmanns Vorschläge für eine neue Rentenstruktur. Dafür soll das Rentensystem geteilt werden in eine staatliche Rente und eine private „Kinderrente“. Die für alle geltende staatliche Altersrente soll wie bisher durch Umlage finanziert werden. Eltern erwerben darin zusätzlich pro Kind weitere Rentenansprüche, die durch ein kapitalgedecktes System erbracht werden, in das auch Kinderlose einzahlen müssen. Das heißt, dass die Höhe der obligatorischen Rente wie bisher sowohl von der Höhe des Einkommens und der Länge der Lebensarbeitszeit als auch von der Kinderzahl abhängig ist, auch wenn sie etwas anders finanziert wird.

Die private Kinderrente, worunter eine durch Kinder beeinflusste und mitfinanzierte Altersversicherung zu verstehen ist, kann sehr individuell gestaltet werden. Die Höhe der Auszahlung hängt sowohl von der Anzahl der Kinder als auch von den intrafamiliären Beiträgen ab. Intrafamiliäre Beiträge bedeuten, dass zunächst die Eltern und später die Kinder gezielt in den „Rententopf“ der Eltern einzahlen. Was in der Regel heißen dürfte, dass eine Rente umso höher ausfallen wird, je mehr und besser qualifizierte Kinder jemand hat. Umgekehrt bedeutet das, dass Kinderlose bzw. Kinderarme bei gleichem Lebenseinkommen im Vergleich zu Kinderreichen entweder mit einer niedrigen allgemeinen Rente bzw. der geringeren privaten Kinderrente vorlieb nehmen oder während ihres Erwerbslebens mehr sparen müssen, um die gleiche Gesamtrente zu erhalten wie Kinderreiche. Auf diese Weise glaubt Steinmann, nicht nur die „Kinderquantität“, sondern vor allem die „Kinderqualität“ erhöhen zu können. Denn nur gut ausgebildete Nachkommen können die Deckung dieser Rente garantieren und darüber hinaus allgemein mehr zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung beitragen. Ziel sei grundsätzlich ein gesteigertes „Humankapital“.

Ähnliches gilt für die Kranken- und Pflegeversicherung. Hier sollen Kinder vor die Wahl gestellt werden, für ihre Eltern Pflege- und Krankenversicherungsbeiträge mitzuleisten oder ersatzweise die Pflegedienste selbst zu übernehmen. Schließlich plädiert Steinmann dafür, dass der Staat sich nicht mehr an den Abtreibungskosten beteiligen, sondern stattdessen vermehrt Kosten für Versuche der künstlichen Befruchtung übernehmen solle.

Großes Diskussionspotenzial

Ausdrücklich weist der Autor darauf hin, dass bei der vorgeschlagenen Rentengestaltung zumindest teilweise auf Strukturen vorstaatlicher Alterssicherungssysteme zurückgegriffen wird, wie sie Jahrhunderte lang bei uns galten und heute noch in vielen Ländern anderer Kulturkreise anzutreffen sind. Die verbindliche Lebensplanung im familiären Kontext wird deutlich betont und damit der Familienzusammenhalt belohnt. Damit wird nicht weniger als ein beträchtlicher Wandel aktueller Verhaltensweisen und zeitgeistiger Werte gefordert und vorausgesetzt.

Und genau da sind Probleme zu erwarten. Steht doch gerade eine individualistische Unverbindlichkeit bzw. Bindungsunlust hoch im Kurs. Ob finanzieller Druck hier eine deutliche Umkehr, gar eine Rückkehr zu einer streckenweise paternalistischen Sozialpolitik bewirken kann, ist zumindest fraglich. Auch würden Kinder im Rahmen einer Art neuen Sippenverständnisses tendenziell wieder mehr zur „Verfügungsmasse“ ihrer Eltern – mit allen Folgen, die bei uns aus der Vergangenheit oder heutzutage aus anderen Kulturkreisen ohne modernes Rentensystem bekannt sind. Das können Einschränkungsversuche der biographischen und beruflichen Wahlfreiheit der Kinder durch die Eltern sein oder die Bevorzugung von Söhnen gegenüber Töchtern. Aber auch umgekehrt begeben sich alte Menschen in eine deutlich stärkere Abhängigkeit von ihren Nachkommen. Dennoch: Auch wenn Steinmanns Konzept polarisieren dürfte, so bietet es in jedem Fall ein höchst beachtenswertes, lohnendes Diskussionspotenzial.


Gunter Steinmann: Kindermangel in Deutschland - Bevölkerungsökonomische Analysen und familienpolitische Lösungen
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2007. 150 S., ISBN 978-3-631-56857-6, 34.00 Euro
 


Der Autor
Gunter Steinmann, 1972 Habilitation in Kiel, 1973-1992 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Paderborn und seit 1992 an der Universität Halle-Wittenberg; Gastprofessuren an der University of Illinois, der University of North Carolina und der Duke University (USA); mehrere Bücher und zahlreiche Zeitschriftenaufsätze in den Bereichen Bevölkerungsökonomik, Wirtschaftswachstum und Makroökonomik.

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul