|
|
Heute das Morgen zurückbekommen
Sophie van der Stap schreibt über ihr Leben
mit Krebs
und den Sieg über die Krankheit
Von
Christa
Tamara
Kaul - 2008
Und plötzlich ist alles anders – dann, wenn es heißt: Du hast Krebs. Es
beginnt eine qualvolle Zeit, physisch wie psychisch, immer und für alle,
für die Kranken wie für Partner und Angehörige. Eine Achterbahn der
Gefühle zwischen Entsetzen und Abwehr, zwischen Wut und Hoffnung,
zwischen Todesangst und Lebenswillen.
Die niederländische Studentin Sophie van der Stap trifft die
niederschmetternde Diagnose im Alter von 21 Jahren. Die Laborbefunde
besagen, dass sie an einem Rhabdomyosarkom, einer hoch aggressiven
Tumorart des Muskelgewebes erkrankt ist. Die ersten Reaktionen sind
blankes Entsetzen, auswegslose Flucht vor dem Befund, das Gefühl, im
falschen Film zu sein: „Und da saß ich, mit offenem Mund. Da lag ich,
schluchzend auf dem Boden. Da kroch ich, vor Schreck, unter den
Schreibtisch. Es war vollkommen irreal. Zugleich aber nur zu real.“
Der Diagnose folgt die unausweichliche Therapie – mit zahllosen
Infusionen und Folgeuntersuchungen, mit schlaflosen Nächten voll übel
riechender Schweißausbrüche, mit Erbrechen und Gestank, mit der Angst
vor dem Identitätsverlust. Da beginnt Sophie, ihre persönliche
Achterbahnfahrt durch den Krankheitsverlauf tagebuchartig festzuhalten,
und öffnet damit ihrer Verzweiflung ein Ventil.
Das Buch, das aus diesen Aufzeichnungen entstanden ist, lässt den Leser
zum Begleiter des Therapieverlaufes werden und gewährt ihm streckenweise
sehr intime Einblicke in Sophies zum Zerreißen gespanntes Innenleben.
Dabei gelingt es der Autorin, einerseits durch den Wortwitz jugendlicher
Ausdrucksweise dem schweren Thema eine gewisse Leichtigkeit zu geben und
andererseits den Leser ansatzweise die essentielle Kluft zwischen der
„neuen Welt“ der tödlich Erkrankten und der alten Welt des „normal“
weiterlaufenden Lebens ermessen zu lassen. Bis jetzt stand sie mitten im
Leben, studierte Politologie, feierte viel mit Freunden und reiste gern.
Die Zukunft stand ihr offen. Und jetzt? „An diesem Tag, in diesem Raum
veränderte sich meine Welt vollständig – und nur meine. Die anderen
Studenten liefen einfach weiter.“
Wut und Verzweiflung, beide fast so kraftraubend wie die eigentliche
Krankheit, weichen zunehmend Momenten des sich Einbettens in das
Unausweichliche, Momenten des Versuchs, wenn schon nicht einen Sinn, so
doch das durchaus „Natürliche“ des Geschehens zu sehen. „Ich rechne also
mit dem schlimmsten Szenario: Es geht zu Ende mit mir. Ich nehme unsere
(sehr alte) Katze Saartje auf den Arm, drücke sie an mich und frage
mich, wer von uns beiden wen überleben wird. In diesen Wochen tritt der
Tod zum ersten Mal wirklich in mein Bewusstsein. Das Menschsein als Teil
eines größeren Ganzen, der natürliche Prozess des Geborenwerdens und
Sterbens. Das nimmt mir etwas von meiner Unsicherheit, es macht das
Sterben weniger fremd, bedrohlich, unheimlich. Schade nur, dass wir
nicht beide gleichzeitig gehen.“
Das ist die eine Seite der Sophie. Doch sie ist nicht nur ein „armes
kleines Krebsbündel“ und eine womöglich zum baldigen Tod Verurteilte,
als die sie sich in ihren dunkelsten Stunden sieht, sie ist auch eine
Kämpferin, in der die Lust am Leben immer stärker aufbegehrt. Und so
folgt der Krebsdiagnose nicht nur ein qualvoller Lebensabschnitt,
sondern, zunächst eher unbewusst, auch die Chance der persönlichen
Entwicklung, der Beginn von Verwandlung und Reifeprozess. „Aufräumen und
Saubermachen“ wird zu ihrem Lebensmotto. Dabei geht es ihr darum, sich
und anderen hoffnungsfroh zu zeigen, „dass ein Leben mit Krebs möglich
ist, dass ich nach wie vor lachen und Dinge genießen kann, zum Beispiel
shoppen, mich aufbrezeln, ausgehen.“
Der Aufräumprozess beginnt völlig unspektakulär mit dem Kauf einer
Perücke, um den durch die Chemotherapie kahl gewordenen Kopf zu
bedecken. Das lässt sie die Erfahrung machen, dass Äußerlichkeit
innerliche Auswirkungen hat. „Perücken sind viel mehr als nur Haare. Sie
machen etwas mit mir, nicht nur mit meinem Kopf, sondern auch mit meinem
weiblichen Bewusstsein. Dass ich anders aussehe, bewirkt, dass ich mich
anders fühle und dass ich andere Reaktionen hervorrufe.“ In einem
Strudel widersprüchlicher Gefühle erwirbt sie nach und nach acht weitere
Perücken. Mit ihnen verbindet sie unterschiedliche Identitäten, denen
sie eigene Namen gibt: Stella, Sue, Daisy, Blondie, Platina, Oema, Pam,
Lydia oder Bebé. Als Blondchen gibt sie sich unbedarft naiv und umgarnt
kokett die Männer, als Rothaarige spielt sie die femme fatale des
Nachtlebens, als Brünette sieht sie sich eher der Ernsthaftigkeit
verpflichtet. Ihre experimentellen Charaktere ermöglichen ihr,
Lebensentwürfe auszuprobieren, sich in verschiedenen Milieus mit
unterschiedlichen Freunden zu bewegen. Aber eins haben die neun Damen
gemeinsam: „Hinter allen verbirgt sich ein bisschen Sophie. Eine Sophie,
die ihnen über die Schulter sieht und jede Schauspielerei mit Unbehagen
registriert. Eine Sophie, die ihnen etwas abschaut und sich dadurch
weiterentwickelt. Und eine Sophie, die merkt, … dass Daisy, Blondie, Sue
und Stella zusammen eine neue Sophie sind.“
Der langwierige, aber endlich doch positive Therapieverlauf und die
Wandlung zu einer „neuen Sophie“ gehen untrennbar zusammen. „Je kleiner
meine Tumorfamilie wird, desto besser fühle ich mich. Es hat Angst und
Gewichtsverlust, es hat Schweiß und Kotzerei gekostet, aber allmählich
gewöhnt sich mein Körper an all das Neue, das ihm zugeführt wird, und
man sieht immer mehr Sophie und immer weniger Krebs.“
Als sie schließlich auf demselben Stuhl von demselben Arzt, der ihr
einst die Schreckensbotschaft ihrer Krankheit überbracht hat, erfährt,
dass sie von allen Tumoren befreit ist, dreht sich ihr Leben abermals um
hundertachtzig Grad. „Heute habe ich das Morgen zurückbekommen.“ Und sie
ist inzwischen nicht nur eine andere Sophie, eine, die zu sich selbst
und ihrer beruflichen Bestimmung als Schriftstellerin und Journalistin
gefunden hat, sondern auch eine, die erste zweifelhafte Erfahrungen mit
der modernen Medienwelt, ihrem neuen Berufsfeld, gemacht hat und
ironisch kritische Distanz herstellen kann. „Krebspatientin geht mit
ihren Perücken, ihrem Sodbrennen, ihren Tränen, ihren Arztgeschichten
und Träumen an die Öffentlichkeit. Sprich: Krebspatientin goes celebrity.
… Ja, es ist richtig cool, Krebspatientin zu sein.“
Sophie van der Stap: Heute bin ich blond. Das Mädchen mit den neun
Perücken.
Verlag Droemer Knaur, München, 2008, ISBN 3-426-27443-4, 16,95 Euro
|
|