Keine Frage, die Neurowissenschaften haben in den letzten
Jahrzehnten beeindruckende Erkenntnisse gewonnen und in der
öffentlichen Wahrnehmung einen wahren Triumphzug angetreten. Kaum
eine Forschungsdisziplin will heutzutage noch ohne das Präfix „Neuro“
auskommen – neben der Neurobiologie, Neurophysiologie und
Neuropharmakologie über die Neuropathologie und Neuropsychologie
gibt es mittlerweile auch die Neuroästhetik, Neuroökomomie und
Neurotheologie – um nur einige von vielen zu nennen. Was bisher
fehlte, war die Neuromythologie. Doch diese Lücke kann jetzt als
geschlossen gelten.
Felix Hasler heißt der Mann, promovierter Wissenschaftler und
Wissenschaftsjournalist, der seit Langem in der Hirnforschung tätig
ist und nun mit seiner neuesten Publikation „Neuromythologie“ (1)
diesen Dienst ziemlich umfassend erwiesen hat. Da er unter anderem
zehn Jahre in der Arbeitsgruppe Neuropsychopharmacology und Brain
Imaging an der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, alias
Burghölzli, gearbeitet hat und derzeit an der
Berlin School of Mind and Brain
der Humboldt-Universität in Berlin forscht, weiß er also, wovon er
spricht und schreibt.
Vom Unbewussten zum Alleswissen
"Die Macht des Unbewussten" hieß eine Dokumentation,
die das WDR-Fernsehen Mitte Oktober 2012 ausstrahlte und die mit der
Aussage beworben wurde, dass „über 90 Prozent von allem, was wir
täglich machen, unser Gehirn quasi ohne uns“ erledigt. „Unbewusst,
oft ohne dass wir es merken.“ Zwar wurde denen, die sich schon
länger, wenn auch nicht unbedingt professionell, mit neuronalen
Prozessen befassen, nichts wirklich Überraschendes geboten –
Benjamin Libet
ließ deutlich grüßen – doch wurde immerhin der aktuelle Stand der
Hirnforschung zum Thema Unbewusstes allgemeinverständlich
zusammengefasst und mit teilweise aufschlussreichen Szenen belegt.
Bemerkenswert waren jedoch nicht nur die vorgestellten
Forschungsergebnisse über das Zusammenspiel von Hirnstrukturen,
Transmittern und neuronalen Schaltkreisen hinsichtlich der Lenkung
menschlichen Verhaltens, sondern noch mehr die streckenweise
geradezu euphorisch verkündeten Zukunftsprognosen der conditio
humana. So verkündete ein Allan W. Snyder, immerhin Direktor des
renommierten
Centre
For the Mind in Sydney,
mit großer Begeisterung, dass „wir“ aufgrund des sich abzeichnenden
Forschungsergebnisse, die nicht zuletzt auf einer von ihm
entwickelten nicht-invasiven Hirnstimulation
(non-invasive
brain stimulation)
beruhen, bald in der Lage sein würden, neue Denkmuster zu entfalten,
um dann endlich „Menschen so zu sehen, wie sie wirklich sind“.
Menschen so sehen, „wie sie wirklich sind“? Eine wahrhaft
phänomenale Prophezeiung! Dass Snyder mit seiner nicht-invasiven
Hirnstimulation eine interessante Methode der Hirnmanipulation
entwickelt hat, steht wohl außer Frage. Dass er daraus jedoch den
Schluss zieht, damit Menschen demnächst vollkommen durchschauen zu
können, also – sinnbildlich ausgedrückt – des Pudels Kern endlich
vollständig enträtseln zu können, ist genau dieser minimale Schritt,
der einem Quantensprung von wissenschaftlicher Erkenntnis zu
heilskündender Phantasmagorie gleichkommt. Ein Schritt, der
verantwortungsbewusste Wissenschaft hin zu
wissenschaftsideologischer Exegese befördert, die die Hirnforschung
immer häufiger auf boulevardeskes Terrain abgleiten lässt. Und das
nicht durch auflagen- oder klickzahlengeile Medien, sondern durch
Wissenschaftler selbst.
Das genau ist das Thema, dem sich Hasler in seiner aktuellen
Publikation widmet: Das Sichtbarmachen des schmalen Grates zwischen
wissenschaftlicher Redlichkeit und ideologieverliebten Utopien
jenseits des – wahrscheinlich zu allen Zeiten – Menschenmöglichen.
Ideologieverliebte Utopien, die nicht nur den idealen Nährboden für
Mythenbildung liefern, sondern darüber hinaus auch noch
gewinnbringende Manipulationen anfeuern.
Die Dekade des Gehirns

Den Begriff „Neuroscience“ prägte der amerikanische
Biologe Francis Otto Schmitt, ehemals tätig am Massachusetts Institute of Technology
(MIT). im Jahr 1962,
also erst einige Zeit nach den ersten Versuchen, mit
neuromolekularen Methoden der Funktionalität des Gehirns auf die
Spur zu kommen. Dass die Medien einschließlich einer ganzen Armada
von Fachpublikationen sich heute zuhauf bemühen, uns mittels
Neuro-Neuigkeiten zu erklären, was die Welt im Innersten
zusammenhält – mal mehr, mal weniger kompetent – verdanken wir
jedoch vorrangig dem ehemaligen US-Präsidenten Georg H.W. Bush
(sen.). Seine 1990 ins Leben gerufene
"Dekade des
Gehirns" beschleunigte nicht nur die Forschungsintensität, sondern
erwünschter Maßen auch den öffentlichkeitswirksamem Boom in den
Medien.
Große Hoffnungen waren vor allem auf Entwicklungen gerichtet, die
die Funktionsweise des Gehirns vor allem bei neurogenetischen
Erkrankungen wie Autismus, Morbus Alzheimer, Schlaganfall, Epilepsie
oder Schizophrenie besser zu verstehen und damit auch besser zu
behandeln halfen. Wenn man die Wirkung dieser Initiative allein am
Zuwachs der wissenschaftlichen Publikationen messen wollte, dann war
es wahrlich ein grandioser Erfolg. Laut Joelle Abi-Rached von der
London School of Economics gab es im Jahr 1968 weltweit 2.020
Fachaufsätze zu Struktur und Funktion des Gehirns, im Jahr 1988
waren es schon 11.770 und im Jahr 2008 schließlich 26.500 (2).
Wissenschaftsideologische Trends und ihre Nebenwirkungen
Zweifelsfrei konnten die Neurowissenschaftler besonders im
technologischen, vielfach aber auch im molekularbiologischen Bereich
einen Teil der Erwartungen erfüllen. So können inzwischen eine ganze
Reihe von Zusammenhängen zwischen kognitiven und physiologischen
Prozessen im Nervensystem mit Hilfe bildgebender Verfahren,
vorrangig der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), recht
präzise erkannt und beschrieben werden. Populärwissenschaftliche
Berichte sprechen hier gern davon, dass man nun dem Gehirn beim
Denken zuschauen könne.
Allerdings – bei aller berechtigten Genugtuung über das Erreichte –
es sind noch mehr Fragen offen als beantwortet, und es wurden eben
bedauerlicherweise auch fragwürdige Mythen etabliert, gerade mittels
der bildgebenden Verfahren. Eine Reihe der aus heutiger Sicht
leichtfertigen, voreiligen oder unhaltbaren Schlüsse halten sich
enorm hartnäckig, so dass aufgrund der Mythenbildung eine Menge der
berühmt-berüchtigten Nebenwirkungen generiert werden.
Nebenwirkungen, mit denen sich Geld verdienen lässt.
Pharma-Doping für Gesunde, Smart Drugs fürs gehobene Wohlbefinden,
Brain Boosters als Tuning fürs Durchschnittshirn – heute fast
alltäglich. Mit ursprünglich für neurologische und psychische
Erkrankungen entwickelten Medikamenten hat sich die Pharmaindustrie
bereits einen Milliardenmarkt im „Lifestyle-Sektor“ erschlossen.
Denn, so Hasler, befördert durch den jahrelangen Medienrummel um
alles, was das Präfix Neuro vor sich herträgt, lässt sich
mittlerweile mit gesunden Menschen mindestens so viel verdienen wie
mit kranken.
Mythos Serotoninhypothese
Beispiel Antidepressiva. Sie haben mittlerweile einen enormen Anteil
an den lifestylemäßig genutzten Medikamenten. Sie werden – auf
ärztliches Rezept, versteht sich – von deutlich mehr Menschen
eingenommen, als tatsächlich an Depression erkrankt sind. Hasler
zitiert hier unter anderem aus einer pharma-ökomischen Studie aus
dem Jahr 2007 (3). Diese besagt, „dass ganze 94 Prozent der Patienten,
die durch Pharma-Direktwerbung motiviert zum Arzt gehen und eine Antidepressiva-Verschreibung wünschen und erhalten, gar keine
behandlungsbedürftige Depression haben“.
Rekordhalter in diesem Wirkstoffsegment ist nach wie vor Serotonin.
Und das, obwohl mehrere renommierte Wissenschaftler dem
Serotonin-Metabolismus mittlerweile jede maßgebliche Wirkung auf
psychiatrische Erkrankungen einschließlich echter Depressionen
absprechen. So sagt etwa
Elliot Vatenstein,
Universität von Michigan: „Obwohl oft … erklärt wird, dass
depressive Menschen einen Serotonin- oder Noradrenalinmangel haben,
widerspricht die wissenschaftliche Beweislage diesen Behauptungen.“
(4)
Diese Ansicht deckt sich mit Erfahrungen aus der Stablon-Medikation.
Stablon (Wirkstoff Tianeptin) ist ein Antidepressivum der
SSRI-Gruppe, d.h. ein „Selektiver Serotonin-Wiederaufnahme
Verstärker“, also ein Medikament, dass die Verfügbarkeit von
Serotonin reduziert. Und – ausgerechnet mit diesem Medikament, das
das vielfach als großen Helfer bei Depressionen befürwortete
Serotonin reduziert, ließen sich gute Erfolge bei der Behandlung von
Depressionen erzielen. Das bedeutet, Wissenschaftler experimentieren
mit unterschiedlichen Methoden und Erfolgen, die insgesamt aber
bislang wenig evidente oder sogar widersprüchliche Aussagen
erbringen. Ziemlich unverblümt formulierte es 2011 der
einflussreiche amerikanische Psychiater Allen Frances (5) auf einer
Tagung in Berlin: „Auf jeden jungen Patienten, der richtig
diagnostiziert wurde, kommen zwischen drei und neun Menschen, die
fälschlicherweise zu Kranken gemacht werden.“ Und, noch krasser:
„Unsere Neurotransmittertheorien sind nicht viel weiter als die
Säftelehre der Griechen.“
Wie bei Serotonin müssen andere tatsächlich oder angeblich
gesicherte Forschungsergebnisse hinsichtlich anderer Wirkstoffen
herhalten, um die menschliche Existenz zu maximieren, ja möglichst
in die Evolution einzugreifen. Denn die Erkenntnis, dass der Mensch
nicht nur als Individuum, sondern auch als ganze Gattung nicht
vollkommen und zudem noch endlich ist, gilt unter vielen
Zeitgenossen als uncool.
So sieht (nicht nur) der britische Philosoph John Gray (6) eine ganze
Lifestyle-Industrie im Dienste der Todesverleugnung. Zunehmender
Beliebtheit erfreut sich daher auch die Kryonik – das Einfrieren
alter Körper im Hoffen auf eine spätere Wiedererweckung, und manche
Autoren, beispielsweise Ray Kurzweil, propagieren die These, dass
mit Hilfe der Wissenschaften das Altern bald abgeschafft, der Mensch
von seinen biologischen Fesseln befreit und sein Bewusstsein in
einer digitalen Welt unsterblich gemacht werden.
Zugegeben: Solch drastische Prophetien kommen nicht von ernst zu
nehmenden Wissenschaftlern. Doch evozieren manche von deren Aussagen
eine entsprechende Hybris. Und leichtfertige Rückschlüsse oder
Fehleinschätzungen finden sich keineswegs nur im
molekularbiologischen Bereich. Die Neuro-Publizität hat längst auf
mehr oder minder entfernte Disziplinen – etwa die Linguistik, die
Informatik, die Philosophie oder die Theologie übergegriffen. Nicht
zu vergessen die Forensik.
Mit weltbildgebenden (7) Verfahren zur Unfreiheit des „neuen Menschen“?
Fairerweise ist festzuhalten, was auch Felix Hasler ausdrücklich
betont, dass die scharfe Kritik an den Neurowissenschaften nur einen
relativ kleinen Teil dieses Forschungsbereiches betrifft. Allerdings
ist es genau derjenige Teil und sind es diejenigen Vertreter, die am
spektakulärsten auftreten und in den Medien am häufigsten
abgehandelt werden. Während neurologische Untersuchungen, die
erkunden, was im Gehirn bei Schlaganfällen oder Alzheimer vor sich
geht oder wie Sinnesreize verarbeitet werden, durchaus Erfolge
aufweisen und dringend erforderlich sind, dabei aber mehr oder
minder unspektakulär und sachlich kommuniziert werden, verbreiten
andere Sparten um sich herum eine Aura des Faszinosums, fast des
Absoluten. Ganz vorn dabei die These vom determinierten Menschen
ohne Willensfreiheit.
Zu den scheinbar unverwüstlichen Wurzeln, aus denen der
Determinismus-Glaube erwuchs, zählen die Versuche des kalifornischen
Physiologen Benjamin Libet aus den frühen 1980er Jahren. Dass der
Nimbus vieles noch immer nährt, ist umso erstaunlicher, als längst
systemische Fehlschlüsse bei seinen Experimenten nachgewiesen
wurden. So konnten unter anderen die neuseeländischen Forscher Judy
Trevena und Jeff Miller zeigen, dass es hinsichtlich der „ominösen
Bereitschaftspotenziale“ keinerlei Unterschied macht, ob jemand eine
Handlung ausführen wird oder nicht. Allein die Ansprache eines
bestimmten Hirnareals durch anstehende Entscheidungsprozesse
aktiviert die Bereitschaftspotenziale, die Entscheidung für oder
gegen eine Handlung wird dadurch aber nicht bestimmt.
Im Titanenkampf zwischen dem „Mythos Determinismus“ (8) und dem
„Mythos Willensfreiheit“ stehen hierzulande an der
Determinismusfront ganz vorne
Wolfgang Prinz, emeritierter Direktor
des Leipziger Max Planck Instituts für Kognitions- und
Neurowissenschaften,
Gerhard Roth, Professor am Institut für Hirnforschung der Uni
Bremen, und
Wolf Singer,
emeritierter Direktor des Frankfurter Max Planck Instituts für
Hirnforschung. Dieses Dreigestirn weist mit ähnlichen
Argumentationssträngen den Begriff von der menschlichen
Entscheidungsfreiheit zurück. Denn, so etwa Singer, das
naturwissenschaftliche Kausalmodell, gemäß dem die Welt als
geschlossenes deterministisches Ganzes anzusehen ist, schließe
Freiheit aus. Die neuronalen Verknüpfungen des Hirns legen jedes
Individuum in seinem Handlungsschema fest. „Keiner kann anders, als
er ist“, so der Zitatklassiker der Determinismusfront.
Trotz dieser strikten Verweigerung des Freiheitsbegriffs sehen
Wissenschaftler anderer Disziplinen, etwa Philosophen wie
Peter Bieri, jedoch nicht
unbedingt einen Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit.
Bieri, der die Überinterpretation der Libet-Experimente als
„klassischen
mereologischen Trugschluss“
und „abenteuerliche Metaphysik“ (9) erachtet, wendet ein, dass der
Begriff der Willensfreiheit nur unter bestimmten Voraussetzungen im
Gegensatz zum Determinismus stehe und dass diese Voraussetzungen
keinesfalls akzeptiert werden müssten.
Holm Tetens, Professor für Philosophie an der Freien Universität
Berlin, stellt dagegen die
Frage, ob physische
Zustände, vor allen Dingen Gehirnzustände, überhaupt etwas wie
Intentionalität repräsentieren können. Nur dann könnten mentale
Zustände wirklich Gehirnzustände, also physische Zustände sein.
Diese Frage hat lange Zeit die Diskussion in der Philosophie des
Geistes beherrscht. Inzwischen gestehen allerdings etliche
Philosophen zu, dass Intentionalität auf die eine oder andere Weise
naturalistisch erklärt werden könne. Doch stärker als die
Intentionalität scheint die Frage des Bewusstseins einer
naturalistischen Erklärung im Wege zu stehen. Doch hier stellt Tetens die übergeordnete und damit wohl bedeutendere Frage, ob
nämlich die empirischen Wissenschaften überhaupt etwas über Freiheit
aussagen können und vor allem, was jeweils unter Freiheit verstanden
werden soll. Ist Freiheit überhaupt an den freien Willen gebunden?
Ein entscheidender Hinweis kommt von dem amerikanischen Philosophen
Thomas
Nagel,
der die Tatsache des subjektiven Empfindens als unzugänglich für
jedes physikalische Erklärungsmodell erachtet. Denn keine
physikalische Beschreibung könne etwas ganz Zentrales überhaupt
erfassen: das bewusste subjektive Erleben.
Mit zwei Thesen entzieht Tetens sich allerdings der Aufgeregtheit
der naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung:
These 1: Der Mensch scheint aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht
frei zu sein.
These 2: Selbst wenn der Mensch nicht frei ist, so ändert sich für
ihn nichts (im Sinne der conditio humana, die Autorin). Was nicht
zuletzt bedeutet, dass die Neurowissenschaften sich von normativen
Ansprüchen fernhalten sollten.
Unfrei und verantwortungslos?
Wie prekär es werden kann, wenn Neurowissenschaftler normative
Ansprüche stellen, zeigt die Forderung, dass Strafrecht zu
reformieren, weil Forschungsergebnisse nahe legten oder gar
angeblich beweisen würden, dass es die Schuldfrage im klassischen
Sinn gar nicht gibt. Die Problematik wächst weiter mit dem Versuch,
kulturelle Leistungen, ja die gesamte Existenz des Menschen durch
einen reduktionistischen Ansatz auf das Gehirn zu reduzieren und
psychisch-geistige Prozesse als durch messbare physische Vorgänge
erklärbar anzusehen. Kritiker sehen diesen Ansatz in der Nähe des
Zustandes, den René Descartes im 18. Jahrhundert den Tieren
zuschrieb: der Mensch als reduktiv erklärbarer Automat.
Marx und die daraus erwachsene kommunistische Lehre forderten „den
neuen Menschen“. Denn nur so könnten die gesellschaftlichen
Verhältnisse, also die conditio humana, positiv weiter entwickelt
werden. Rudi Dutschke und etliche andere der 68er Generation
wiederholten mehr oder minder fanatisch diesen Anspruch. Leider
versagten aber bislang sowohl der real existierende Sozialismus als
auch andere Gruppierungen bei diesem Schöpfungsakt kläglich.
Ähnlich utopisch, wenn nicht gar fanatisch, wirken die
Prophezeiungen von Neurowissenschafts-Apologeten à la Snyder, die
uns die Sicht des „Menschen, wie er wirklich ist“ versprechen.
Realistischer ist da eine gewisse, aus den nackten Tatsachen
erwachsende Bescheidenheit, wie sie „Das Manifest“ der Publikation
„Gehirn und Geist“ exemplarisch übt:
„Grundsätzlich setzt die neurobiologische Untersuchung des Gehirns
auf drei verschiedenen Ebenen an. Die oberste erklärt die Funktion
größerer Hirnareale, beispielsweise spezielle Aufgaben verschiedener
Gebiete der Großhirnrinde, der Amygdala oder der Basalganglien. Die
mittlere Ebene beschreibt das Geschehen innerhalb von Verbänden von
hunderten oder tausenden Zellen. Und die unterste Ebene umfasst die
Vorgänge auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle. Bedeutende
Fortschritte bei der Erforschung des Gehirns haben wir bislang nur
auf der obersten und der untersten Ebene erzielen können, nicht aber
auf der mittleren.“
Diese mittlere Ebene betrifft neben der Willensfreiheit auch die
vieldiskutierten Themen Gottesvorstellung und Religiosität. Auch da
stoßen die neuesten High-Tech-Verfahren an Grenzen. Sie können zwar
darstellen und beweisen, dass religiöse Erlebnisse neurologische
Entsprechungen im Gehirn haben. Sie enträtseln zwar viele
Geheimnisse. Doch das alles, nur um direkt darauf vor neuen Rätseln
zu stehen – etwa warum das alles so ist, also auf welchem Urgrund
diese Vorgänge basieren. Das bleibt, genauso wie so vieles in der
Hirnforschung insgesamt, eine Sache des jeweiligen Glaubens.
Nicht alles neu, aber so bisher nicht zusammengestellt
Streng beurteilt bringen Haslers Betrachtungen der aktuellen
Neuro-Front für die, die sich bereits länger, wenn auch nicht
unbedingt professionell, mit der Thematik beschäftigen, nicht allzu
viel Neues. Vieles von seiner „Streitschrift gegen die Deutungsmacht
der Hirnforschung“ konnte, wenn schon nicht so detailliert, so doch
zumindest rudimentär gewusst werden. Nicht zuletzt deshalb, weil er
selbst einen Teil davon, vornehmlich Aussagen zum Komplex der
Willensfreiheit, schon vor einigen Jahren vorgebracht hat. Aus
dieser Zeit stammt auch ein jetzt vom Transcript Verlag bei YourTube
eingestelltes
Video.
Zudem haben auch andere Autor/innen thematisch ähnliche
Publikationen veröffentlicht, etwa die Philosophieprofessorin
Brigitte
Falkenburg das Buch „Mythos Determinismus“ im März dieses Jahres.
Dennoch ist die Lektüre von Haslers Buch wohl für die meisten
gewinnbringend, da es das weit gefächerte Thema Neurowissenschaften
ziemlich umfassend auf Bruchstellen abklopft und den aktuellen Stand
der Auseinandersetzung faktengestützt darstellt. Das Fazit des
Autors: „Die Neurowissenschaften versprechen revolutionäre
Erkenntnisse und die Heilung von vielen Leiden. Beweise aber bleiben
sie seit 50 Jahren schuldig.“ Doch: Es zeichnet sich Licht ab am
Ende des durch etlichen Unfug mittels bildgebender Verfahren
verkleisterten Tunnels. Längst haben sich etliche Wissenschaftler zu
kritischen Gruppen zusammengeschlossen – etwa zu MEZIS (Mein-Essen-zahl-ich-selber),
einer Vereinigung, die jegliches Pharmasponsoring ablehnt. Folglich
glaubt Hasler, dass, gemäß dem „klassischen Gartner-Hype-Zyklus“,
nun nach den völlig überzogenen Prophezeiungen der Weg durch das
„Tal der Enttäuschungen“ endlich zu vernünftig dimensionierten und
kommunizierten Forschungsergebnissen und Erkenntnisgewinnen führen
wird. Denn die sind dringend nötig. Er ist nicht der Einzige, der es
so oder ähnlich sieht.
Felix Hasler: Neuromythologie – Eine Streitschrift gegen die
Deutungsmacht der Hirnforschung
Oktober 2012, Transcript Verlag., kart., 22,80 Euro, ISBN
978-3-8376-1580-7, Reihe X-Texte
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1 Felix Hasler „Neuromythologie – Eine Streitschrift gegen die
Deutungsmacht der Hirnforschung, 2012, Transcript Verlag
2 Felix Hasler: Neuromythologie, S. 17
3 Felix Hasler: Neuromythologie, S. 127
4 Felix Hasler: Neuromythologie, S. 128
5 Frances leitete Anfang der 1990er Jahre die Überarbeitung der
derzeit aktuellen Auflage DSM-IV, die im Frühjahr 2013 durch das
DSM-5 ersetzt werden soll
6 John Gray: Wir werden sein wie Gott, Klett-Cotta Verlag, September
2012
7 Wortschöpfung von Petra Gehring: Es blinkt, es denkt. Die
bildgebenden und die weltbildgebenden Verfahren der
Neurowissenschaft. In: Philosophische Rundschau 51 (2004), S.
273-293.
8 Siehe dazu auch: Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus.
Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Springer, Heidelberg 2012.
9 Peter Bieri, Spiegel 10.01.2005