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Yann Martel:

Schiffbruch mit Tiger
Roman 

S. Fischer Verlage, 2004

384 Seiten, Gebunden
ISBN: 3-10-047825-8

www.s-fischer.de/

 

Trugbild der Freiheit

 

 

Yann Martel:  Schiffbruch mit Tiger

 

 

Von Christa Tamara Kaul    -    Dezember 2004

 

 

Das Zusammenleben mit Katzen -  es hat etwas Faszinierendes, Anziehendes, Geheimnisvolles  -  und auch Beruhigendes. Für viele Menschen jedenfalls.  Wenn die Katze allerdings ein ausgewachsener bengalischer Tiger ist und der gemeinsame Lebensraum ein kleines Rettungsboot mitten im schier unendlichen Pazifischen Ozean, wenn Mensch und Tier 227 Tage des Dahinvegetierens im Meer der Verlassenheit und der Qualen ertragen müssen, dann kann die Freude kaum ungetrübt sein. Gegenseitiger Respekt jedoch kann bleiben. Genau dies durchlebt der junge Inder Pi Patel zusammen mit einem Tiger namens Richard Parker.

 

Piscine Molitor Patel, genannt Pi, wächst als Sohn eines Zooinhabers in einer gebildeten und stark westlich geprägten Familie in Südindien auf.  Die Familie  -  neben dem Vater und Pi gehören noch die couragierte Mutter und der clevere Bruder Ravi dazu  -  lebt im und für ihren Zoo. Von klein auf lernt Pi, vor allem durch den zoologisch überaus versierten Vater, das Leben, die Eigenarten und die Bedürfnisse der unterschiedlichen Tiere kennen und achten. Bis zu einem gewissen Grad versteht er ihre "Sprache". Außer den Tieren gilt das große Interesse des Jungen der Religion  -  oder richtiger: den Religionen. Er sucht Gott in Christentum, Hinduismus und Islam und wird in allen gleichermaßen fündig, was für Pi zu einer individuell zusammgefassten "Allreligion" führt. 

 

Mitte der 1970er Jahre beschließt der Vater, der im Indien der  Indira Gandhi seine Hoffnung auf ein "Neues Indien" in  unerreichbare Ferne gerückt sieht, mit der Familie nach Kanada auszuwandern. Gemeinsam mit einem großen Teil der Tiere tritt die Familie Patel die Überseereise auf dem japanischen Frachter Tsimtsum  an. Doch der Frachter sinkt, und nur der sechszehnjährige Pi Patel, ein Zebra, eine Hyäne, ein Orang-Utan, eine Ratte und Richard Parker, der 450 Pfund schwere bengalische Tiger, können sich in ein Rettungsboot flüchten.  Doch der Überlebenskampf unter den Schiffbrüchigen nimmt schnell seinen Lauf, bis schließlich nur Pi Patel und Richard Parker übrig bleiben.  Für 227 nicht enden wollende Tage  teilen sie nun das lebensbedrohende Revier bis sie schließlich, dem Tode schon sehr nah, doch noch an das rettende Land gespült werden.  

 

Der Roman ist als Rahmenhandlung aufgebaut, spielt also auf mehreren Ebenen. Dennoch bleibt das gesamte Geschehen klar strukturiert und für den Leser jederzeit übersichtlich, auch wenn mal eine längere Lesepause eingelegt werden muss. Der Kern der Geschichte, das Leben des Pi Patel von seiner unbeschwerten Kindheit an bis zu seiner doch noch glückenden Rettung nach der grausamen Zeit als Schiffsbrüchiger, lässt sich in verschiedenen Dimensionen lesen und interpretieren. Zunächst einmal als fabelhafte, spannende Abenteuergeschichte, erzählt in einem phantasievollen, unkomplizierten Stil, der jedoch niemals in die Nähe der Banalität gerät.  Bisweilen, so bei der Schilderung der fleischfressenden Insel, begibt sich Martel dabei bis ins Reich des Märchenähnlichen.

 

Meisterhaft gelingt es dem Autor, die 227 zermürbend eintönigen Tage des Ausgeliefertseins an die Gewalten des offenen Meeres, also knapp zwei Drittel des Buches, so "hautnah" zu schildern, dass die Spannung nur ganz selten etwas nachlässt. Die unablässige Zerreißprobe zwischen Todesangst, Verzweiflung und den ungezählten listigen Überlebensstrategien, das faszinierende Einbeziehen in Naturerscheinungen, die unter "normalen" Umständen wohl unbeachtet bleiben, lassen Leben von einer sehr differenzierten, ungewohnten Seite "erleben".  

 

"Ich weiß, die Menschen mögen keine Zoos. Und keine Religion. Beide sind einem Trugbild, einer falschen Idee von Freiheit zum Opfer gefallen." Eine der Feststellungen, die Pi Patels  -  und damit Martels?  -  Sicht unserer Welt komprimieren.

 

Martels Buch kreist im Inneren um die Aussagen von Zoologie und Theologie, es thematisiert das Verhältnis von Mensch und Tier sowie von Mensch und Gott. Es hat ein metaphysisches Anliegen. Und das ist die andere Ebene des Romans. Ob allerdings der Versuch von Gottesbeweis und die Ermunterung zu einer universellen Religionseinheit gelungen sind - es darf zumindest bezweifelt werden, auch wenn diese Bereiche ebenso sensibel wie teilweise auch ironisch distanziert angesprochen werden, so dass niemals Peinlichkeiten aufkommen. Die Rezeption dieser Absicht hängt nicht zuletzt von der jeweils subjektiven Zugänglichkeit des Lesers, der Leserin ab. 

 

Völlig unbestreitbar aber leistet der Roman etwas anderes: eine tiefe Einsicht in das Verhältnis von Mensch und Tier und dessen unglaublich acht- und einfühlsame und gleichermaßen lebenspralle Beschreibung. Die souverän sachkundige wie präzise, weil bis in scheinbar Nebensächliches anschauliche Schilderung der Natur im Allgemeinen und der sich entwickelnden Beziehung zwischen dem Jungen Pi Patel und dem Tiger Richard Parker im Besonderen gehört zu dem Feinfühligsten und Besten, was in der zeitgenössischen Literatur zum Verhältnis von Mensch und Tier zu finden ist. Allein die Namensgebung des Tigers, nämlich wie bei einem Menschen mit Vor- und Nachnahmen (wenn das auch im Buch als auf einem Versehen beruhend beschrieben wird), symbolisiert, dass Mensch und Tier und ihr jeweiliges Lebensrecht auf gleicher Augenhöhe beschrieben und  -  geachtet werden. Dabei schleicht sich in keinem Augenblick der phantasiereichen Geschichte irgendeine falsche Disney-Kuscheligkeit ein.  Dem Tier wird seine eigene Würde zuerkannt, ohne die Unterschiede zum Menschen jemals zu leugnen. Schon allein darin liegt die Preis-Würdigkeit (Booker-Preis) dieses Buches begründet. 

 

Weitergehende Rezension auf Anfrage (kostenpflichtig)

 

Textauszug: Als wir Land erreichten, Mexiko, um genau zu sein, war ich so schwach, dass ich kaum noch die Kraft hatte, mich darüber zu freuen. Die Landung war sehr mühsam. Fast wäre das Rettungsboot noch in der Brandung gekentert. ..........

 

Ich blickte hinüber zum Ufer, um zu sehen, wie weit es noch war. Dieser Blick bescherte mir zugleich eins meiner letzten Bilder von Richard Parker, denn in just diesem Moment sprang er über mich hinweg. Ich sah seinen Körper, so voller Leben, lang ausgestreckt in der Luft über mir, ein flüchtiger, pelziger Regenbogen. ......... Er lief unter Mühen, stolperte über seine eigenen Beine. Mehrere Male stürzte er. Als er den Dschungel erreichte, blieb er stehen. Ich war mir sicher, dass er sich nun zu mir umdrehen würde. Er würde mich ansehen. Er würde die Ohren anlegen. Er würde knurren. Etwas in dieser Art würde er tun, zum Abschluss der Zeit, die wir miteinander verbracht hatten. Aber er dachte gar nicht daran. Sein Blick war starr auf den Dschungel gerichtet. Und dann verschwand Richard Parker, der Gefährte meiner langen Reise, der mächtige, angsteinflößende Tiger, der mich gerettet hatte, mit einem kleinen Sprung für immer aus meinem Leben. ......... Stunden vergingen, doch dann fand mich ein Vertreter meinen eigenen Art.

 

Ich weinte wie ein Kind. Nicht weil ich überwältigt von dem Gedanken war, dass ich meine Leiden überstanden hatte. Obwohl ich auch das war. Auch nicht, weil ich wieder meine Brüder und Schwestern um mich hatte, obwohl mich das sehr rührte. Ich weinte, weil Richard Parker mich ohne einen Abschiedsgruß verlassen hatte. Es ist entsetzlich, wenn man sich nicht anständig verabschieden kann. Ich bin ein Mensch, der an Formen glaubt, an die Harmonie eines geordneten Lebens. Wo immer wir können, müssen wir den Dingen eine Gestalt geben, denn Gestalt bedeutet Sinn. Ob es wohl zum Beispiel möglich wäre, meine konfuse Geschichte in genau einhundert Kapiteln zu erzählen, keins mehr und keins weniger? Das ist  -  nebenbei bemerkt  -  etwas, das ich an meinem Spitznamen hasse, die Art wie diese Zahl weiter und immer weiter ins Unendliche läuft. Es ist wichtig im Leben, dass etwas anständig zu Ende gebracht wird. Nur dann kann man es loslassen. Sonst bleibt man mit Worten zurück, die man hätte sagen sollen, aber nie herausbekam, und das Herz ist schwer vor Unglück darüber. Dass uns dieser Abschied misslang, quält mich bis zum heutigen Tag. Ich wünsche mir so sehr, dass ich noch einen letzten Blick auf ihn hätte werfen können, wie er im Rettungsboot saß, dass ich noch ein klein wenig geärgert hätte, damit er mich nicht vergaß. Ich wünschte, ich hätte damals zu ihm gesagt  -  ja, ich weiß, dass er ein Tiger ist, aber trotzdem  - , ich wünschte, ich hätte gesagt: "Richard Parker, unsere Reise ist zu Ende. Wir haben überlebt. Kannst du das glauben? Ich bin dir mehr Dank schuldig, als ich je in Worte fassen könnte. Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier. Deshalb sage ich in aller Form: Richard Parker, ich danke dir. Ich danke dir, dass du mir das Leben gerettet hast. Und nun geh, wohin du gehen musst. Fast dein ganzes Leben hast du im freien Gefängnis des Zoos zugebracht; nun wirst du in der Freiheit des Dschungels gefangen sein. Ich wünsche die alles Gute. Nimm dich in Acht vor den Menschen. Sie sind nicht deine Freunde. Aber ich hoffe, mich wirst du als Freund im Gedächtnis behalten. Ich werde dich nie vergessen, das steht fest. Du wirst für alle Zeiten bei  mir bleiben, in meinem Herzen. Hörst du das Knirschen? Unser Boot kommt an Land. Dann lebe wohl, Richard Parker, lebe wohl. Und Gott sei mit dir."

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Autorenportrait:   Der 1963 in Spanien geborene kanadische Autor Yann Martel wuchs als Sohn einer Diplomaten- und Schriftstellerfamilie unter anderem in Costa Rica, Frankreich und Mexiko auf, später unternahm er lange Reisen durch den Iran, die Türkei und Indien. Nach dem Studium der Philosophie an der Trent University in Peterborough veröffentlichte der als „rising star of the Canadian literary scene“ gefeierte Autor bisher drei Bücher. Es sind dies die Kurzgeschichten-Sammlung The Facts Behind the Helsinki Roccamatios (1993; dt.: Aller Irrsinn dieses Seins, 1994) deren Titelgeschichte 1994 verfilmt wurde, sowie die Romane Self (1996; dt.: Selbst, 1997) und Life of Pi (2001; dt.: Schiffbruch mit Tiger, 2003). Für sein "Schiffbruch mit Tiger" erhielt er am 22. Oktober 2002 den renommierten Booker Prize für englischsprachige Literatur. Die Auszeichnung erreichte ihn während seines Gastaufenthalts in Berlin, wo er im Wintersemester 2002/2003 die Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur inne hatte. Seine sieben Vorgänger in dieser Funktion waren Vladimir Sorokin (Rußland), V. Y. Mudimbe (Kongo), Kenzaburo Oe (Japan), Scott Bradfield (USA), Sergio Ramírez (Nicaragua), Marlene Streeruwitz (Österreich) und Robert Hass (USA).

Das Thema seines Berliner Seminars lautete  "Meeting the Other: the Animal in Western Literature",  das Tier und das Selbst - „like hunters in a jungle“ Es konnten dabei sowohl Pro- als auch Hauptseminarscheine erworben werden.    <<< zurück

 

 

Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger
Roman, S. Fischer Verlag, 384 Seiten, Gebunden
ISBN: 3-10-047825-8

www.s-fischer.de/

 

 

 

© Christa Tamara Kaul