Revolutionäres
Christentum
Revolution für das
Leben
-
oder Voyeur des eigenen Untergangs?
Von Christa Tamara Kaul -
Dezember 2021
Christentum und Revolution – für viele ein
Widerspruch. Muss es aber nicht sein – wenn man
die Botschaft ernst nimmt und die Anfänge
bedenkt. Und auf dieser Basis Veränderung
einfordert. Aber leider, so sieht es der
Philosoph und Theologe Jürgen Manemann, habe die
Kirche (gemeint ist vorrangig die katholische)
derzeit nicht nur Furcht vor der Welt, sondern
vor allem vor ihrer eigenen Botschaft. Da helfe
vielleicht ziviler Ungehorsam.
Drei, teilweise ineinander greifende,
Problemfelder beherrschen unsere Gegenwart:
Erstens die Klima- und Umweltkrise,
bisweilen auch Ökozid genannt, also die
Schädigung der Umwelt, teilweise sogar der
Verlust von ganzen Ökosystemen durch
menschliches Handeln in einem Ausmaß, das sogar
die Existenz der Menschen vieler Gebiete unserer
Erde gefährdet. Zweitens die Demokratiekrise,
die derzeit besonders durch Rechtspopulismus und
Rechtsextremismus angefeuert wird. Und
drittens die Corona-Krise, durch die das
gesellschaftliche Zusammenleben beeinträchtigt,
teilweise sogar destabilisiert wird, und die die
beiden anderen Problemlagen noch verschärft.
Eine, wenn nicht sogar DIE entscheidende Frage
angesichts dieser Lage ist für Jürgen Manemann,
ob das Christentum – zum einen grundsätzlich und
zum anderen und vor allem in seiner heutigen
Form – in der Lage ist, für diese Probleme
sinnvolle Lösungen anzubieten und an der
Krisenbewältigung mitzuwirken.
Nicht ganz unwichtig ist zu wissen, dass
Jürgen Manemann Direktor des Forschungsinstituts
für Philosophie Hannover (FIPH) ist. Einer
katholischen Institution mit
Denkfabrik-Charakter im „Kerngebiet“ der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Und
dass er deutliche Sympathien für Aktionen
zivilen Ungehorsams hegt, wie er es u.a. bei der
Unterstützung der berühmt-berüchtigten
Extinction Rebellion-Bewegung gezeigt hat.
Ebenso wichtig ist zu betonen, dass Manemann
stark geprägt wurde durch den Theologen Johann
Baptist Metz, bei dem er 1993 promovierte. Der
Fundamentaltheologe Metz wiederum war ein
Schüler Karl Rahners. Er gilt als einer der
bedeutendsten Theologen seit dem Zweiten
Vatikanischen Konzil und als Begründer der neuen
Politischen Theologie. Fest stand für Metz der
notwendige Abschied vom bürgerlichen Zeitalter
des Christentums (J.B.Metz: Jenseits
bürgerlicher Religion, 1980). Wobei ihm klar
war, dass dies Angst und Katastrophenbewusstsein
hervorrufen würde, zumindest in der „Ersten“,
also der bürgerlichen Welt. Dennoch hoffte er in
dieser Situation auf eine Erneuerung der
Religion, weil sonst „in einer nachbürgerlichen
Gesellschaft schließlich die Barbarei der
blinden Negation des einzelnen ausbrechen“
würde.
Bürgerliche Religion bedeutet bei Metz: Nicht
die Religion verändert den Bürger, sondern
der Bürger schneidert sich die Religion aus
verschiedenen Inhaltsstücken zu einem ihm
passenden Gebrauchsgegenstand zusammen. Genau
diesem Gedankengang folgt auch Jürgen Manemann,
der seinen Doktorvater in dem vorliegenden Buch
vielfach zitiert. Und er stellt zudem die Frage,
ob das Christentum mit seiner zentralen
Botschaft der Auferstehung womöglich eine Lösung
für ein Problem bietet, das für viele Menschen
(der bürgerlichen Gesellschaft) gar nicht mehr
existiert. Weil sie zwar noch Angst vor dem
Sterben (d.h. der Art des Sterbens) haben, aber
kaum noch vor dem Tod (als endgültigem Ende).
Bietet also das Christentum mit seiner
Auferstehungshoffnung die Lösung für ein
Problem, das für viele Menschen gar nicht (mehr)
existiert? Und ist das Christentum somit als
Lebensform gescheitert?
„Doch Christentum als bürgerliche Religion
ist nicht die Religion des Evangeliums.“
Sich auf Christus zu besinnen, auf seinen
Herrschaftsanspruch, heiße, seine Botschaft und
Wahrheit konkret werden zu lassen. Und das
bedeute für die Schwächsten in der Gesellschaft
einzustehen, also konsequente Nächstenliebe,
Solidarität und Verantwortung für die
Gemeinschaft. „Die Aufspaltung der Liebe in
privat und politisch ist die eigentliche Häresie
des Christentums“, meinte schon vor vielen
Jahren Franz Alt. Hinzu kommt, wie Manemann
darüber hinaus betont, das fast schon
konsequente Wegsehen der Kirche von der
Leidensgeschichte der nichtmenschlichen
Lebewesen, also vorrangig der Tiere. Und das,
obwohl in der Präambel des Tierschutzgesetzes
von 1986 das Tier als „Mitgeschöpf“ bezeichnet
wird. Diese Nähe zu den nichtmenschlichen
Lebenswesen sei die Voraussetzung dafür, die
Leiden der „Mutter Erde“ wahrzunehmen. Immerhin
hat Papst Franziskus bereits 2015 in „Laudato si“
erklärt: „Ich möchte daran erinnern, dass Gott
uns so eng mit der Welt, die uns umgibt,
verbunden hat, … dass das ewige Leben … ein
miteinander erlebtes Staunen sein (wird), wo
jedes Geschöpf in leuchtender Verklärung seinen
Platz einnehmen wird …“.
Dabei ist es ja nicht so, dass die Kirche(n)
die ökologische Krise und da besonders die
notwendige Energiewende nicht erkannt hätte(n).
Aber das „tendenziell randständige Engagement
der Kirchen“ beschränke sich leider meist nur
auf die eigene Gemeinde. „Umfassendere Projekte
sind nicht zu finden.“ Der Kirche falle jedoch
die Aufgabe zu, prophetische Kritik als interne
Gesellschaftskritik zu betreiben Als Lebensform
habe die Kirche nur dann eine Zukunft, wenn sie
sich als lernende Kirche verstehe und quasi über
den eigenen Kirchenturm hinausblicke. Dabei gehe
es weder um eine „Divinisierung“ der Welt und
schon gar nicht um deren „Hominisierung“.
Sondern um eine Befreiung. Und wovon? Vielleicht
von den Menschen, müsste da wohl eine Frage
lauten. Nicht unbedingt, aber vom Kapitalismus,
so der Autor.
„Die Lebensform ‚Kapitalismus’ bietet keine
Lösungen für die von ihr verursachten Probleme.
Im Gegenteil! Sie wirkt krisenverstärkend. Um
das zu ändern, bedarf es einer ‚Revolution für
das
Leben’.“ (Wobei Manemann mittels Fußnote
klarstellt, dass er damit nicht den „Marsch für
das Leben“ meint, der von „fundamentalistischen
Christ*innen“ organisiert wird.) Diese
„Revolution zielt nicht auf die Abschaffung des
Eigentums, sondern auf die Transformation
desselben.“ Das heiße, die Lebensgrundlagen wie
beispielsweise Wasser oder Grund und Boden zu
vergesellschaften und von der „Sachherrschaft“
der Eigentümer zu befreien. Nicht uninteressant
in diesem Zusammenhang das Zitat aus der
Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des II.
Vatikanische Konzil von 1965 zu erwähnen: „Wer
aber sich in einer äußersten Notlage befindet,
hat das Recht, vom Reichtum anderer das
Benötigte an sich zu bringen.“
„Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist
das, was ist, nicht alles.“ Dieser von
Theodor W. Adorno stammende Ausspruch verbindet
sich – fast zwangsläufig – mit Hoffnung. Und die
Hoffnung, also die Möglichkeit einer
Veränderung, kann eine Kraft zum Utopischen
wecken (was nicht mit Utopie zu verwechseln
ist). „Wir spüren etwas von dieser Kraft, wenn
wir … beginnen, verkrustete Verhältnisse und
Strukturen zum Tanzen zu bringen. Dazu müssen
wir aber selbst anfangen zu tanzen.“ Und da
kommt dann doch die – zu Beginn des Buches ja
scheinbar kritisch zitierte – christliche
Auferstehungshoffnung zum Tragen. Denn diese
beinhalte die Weigerung, den Tod anderer einfach
zu akzeptieren.
Hoffen auf Auferstehung heißt Aufstehen für
eine neue Welt, und das heißt Revolte, da
es, nach Ansicht des Autors, „keine christliche
Hoffnung ohne Revolte gibt“. Die anstehende
Revolte sei aber nicht mit früheren Revolutionen
zu vergleichen. Sie stehe im Verhältnis zum
„Reich Gottes“. Und „Reich Gottes“, hier zitiert
Manemann den evangelischen Theologen Helmut
Gollwitzer, „meint eine Revolution, die wir
nicht machen können, die aber an uns geschehen
muss. … Die Revolution, die wir nicht machen,
befähigt uns zu der Revolution, die wir zu
machen haben.“ Sie bezeichne „eine Veränderung
in den Grundlagen eines ökonomischen,
politischen, moralischen und seelischen
Systems.“ Das Hören der Verheißung des Reiches
Gottes befreie zum Bewahren wie zum Verändern
der Gegenwart, der Welt, der Schöpfung. „An der
Zeit wäre eine kairós-empfindliche Kirche, die
gegen das Aussterben ankämpfte, indem sie die
Gelegenheit ergriffe, die „Revolution für das
Leben“ endlich mit voranzutreiben.“
Voranzutreiben etwa, indem gegen die
Umweltvergehen von Konzernen entschiedener
vorgegangen und der Ökozid als
Menschenrechtsverbrechen eingestuft wird.
Vor allem aber sollten die christlichen Kirchen
über Konfessionsgrenzen hinweg den Ökozid und
die Klimakrise zu ihrem Anliegen machen. Wobei
zur Durchsetzung der Ziele auch gewaltfreier
ziviler Ungehorsam ein Mittel der Wahl sein kann
und sollte. Gemäß der Ansicht von Jürgen
Habermas, dass ziviler Ungehorsam ein Widerstand
ist, der „mit den Verfassungsgrundsätzen einer
demokratischen Republik“ im Einklang stehe. Er
sei also kein wirklich revolutionärer, sondern
ein symbolischer Akt, der in der Absicht
durchgeführt wird, an die Einsichtsfähigkeit und
den Gerechtigkeitssinn der jeweiligen Mehrheit
zu appellieren.
Jürgen Manemann bietet mit seinem Buch
„Revolutionäres Christentum“ ein engagiertes
Plädoyer für die dringende, die tatsächliche
Verwirklichung vielfach gepredigter Ziele in
Kirche und Politik – zur Rettung der Umwelt,
zur „Erhaltung der Schöpfung“. Er liefert dabei
weder eine umfassende, wissenschaftlich
fundierte Analyse des kirchlichen,
gesellschaftlichen oder innerweltlichen
Ist-Zustandes noch eine einfache
Betriebsanleitung. Wohl aber zeigt er
Perspektiven eines möglichen christlichen
Beitrags zur Lösung der aktuellen Krisen.
Krisen, die alle menschengemacht sind. Und zu
deren Bewältigung es, in Anlehnung an J. B.
Metz, der „Umkehr der Herzen“, also eines
durchaus christlichen (Um-)Denkens und Handelns
bedarf. Er zeigt, dass engagierte Religiosität
mehr ist als wiederkehrende Kirchentagsrituale.
Und er weist auch auf Zusammenhänge zwischen
Umwelt- und Demokratiekrise einerseits und
Legitimitäts- und Glaubenskrise der Kirche(n)
andererseits hin. Das heißt nicht unbedingt,
dass seine philosophischen und politischen
Ansätze und Bezugnahmen jede/n ausnahmslos
überzeugen werden.
Alles in allem: Ein lesenswertes Buch mit
starkem Aufrüttlungspotenzial und breitem
Hintergrund an theologischem, philosophischem
und soziologischem Basismaterial. Allerdings
ist die Sprache streckenweise
gewöhnungsbedürftig. Fast wirkt es bisweilen wie
orthographisch-ziviler Ungehorsam, wenn
beispielsweise kräftig drauflos „gegendert“ wird
oder wenn etwa das Wort Gott – in Anlehnung an
die orthodox-jüdische Praxis – ohne den Vokal
und stattdessen mit einem Platzhalterzeichen
geschrieben wird. Auch der gleich zu Anfang
definierte Begriff des „wir*“ irritiert, fast
so, als betreffe dieses „wir*“ nur die sehr
überschaubare Gruppe von „Christ*innen“ der
Befreiungstheologie des letzten Jahrhunderts
bzw. der Politischen Theologie. Sowohl dem
Sprachfluss als auch dem Schriftbild wurde damit
kein Gefallen getan.
Jürgen Manemann: Revolutionäres Christentum –
Ein Plädoyer
160 Seiten, transcript Verlag, 2021, ISBN:
978-3-8376-5906-1, 18 Euro