Der Stoff, aus dem
Konflikte sind
Wie und warum das muslimische Kopftuch polarisiert
Christa Tamara Kaul |
Erschienen
bei
Telepolis am 11.10.2009
Es sind nur drei Verse, die sich im Koran zur Bekleidung der
muslimischen Frau äußern, und die sind vage formuliert. Doch
streiten konservative und erst recht fundamentalistische
Islamströmungen für den Hidschab, also das Kopftuch oder den
Schleier, als sei das angeblich gottgebene Schleiergebot die sechste
Säule des Islams. Was es mit dem „Kopftuchstreit“ in seinen
unterschiedlichen Varianten auf sich hat, wie sich der islamische
Feminismus vom westlichen unterscheidet und warum das alles eine
gesamtgesellschaftliche Themensetzung ist, das zeigt mit
wissenschaftlicher Präzision und vielfachen Aha-Effekten ein Buch
von
Sabine Berghahn und Petra Rostock.
Wenn man etlichen mehr oder minder selbsternannten Zukunftsforschern
wie etwa Matthias Horx oder John Naisbitt glauben darf, so gibt es
seit geraumer Zeit den "Megatrend Frauen". Soll heißen, dass Frauen
nach und nach nicht nur alle Bastionen der Männer erobern, sondern
dass das Thema Frau darüber hinaus auch die wissenschaftlichen,
politischen und literarischen Bühnen beherrscht. Sosehr plakative
Aussagen dieser Art meist mehr vernebeln als erhellen – in gewisser
Weise trifft dieser „Trend“ aber doch auf „die“ muslimische Frau zu.
Denn in der Debatte um die Demokratiefähigkeit des Islams und die
Integrationswilligkeit von Muslimen in den Ländern der westlichen
Welt spielt neben dem Rechtsverständnis des Islams vor allem das
muslimische Frauenbild eine entscheidende Rolle. Die Akzeptanz der
durch die griechisch-römische Antike, das Christentum und die
Aufklärung geprägten europäischen Werte seitens der Zuwanderer und
die Offenheit der europäischen Mehrheitsgesellschaften gegenüber
„dem Anderen“ sind zu so etwas wie dem Lackmustest der Integration
geworden.
Beim Stichwort „muslimische Frau“ taucht bei den meisten Menschen in
Europa reflexartig das Kopftuch als Assoziation auf – „die Flagge
des islamischen Kreuzzuges, der die ganze Welt zum Gottesstaat
deformieren“ will, wie einst Alice Schwarzer wetterte. Zu dieser
Assoziation gesellen sich meist weitere wie Unterdrückung, Ehrenmord
oder Genitalverstümmelung.
Dementsprechend sind Kopftuch und Schleier im westlichen Kulturkreis
zu Negativsymbolen geworden, wortwörtlich zum „
Stoff,
aus dem Konflikte sind“, wie
die Berliner Wissenschaftlerinnen Sabine Berghahn und Petra Rostock
ihr Buch nennen, das im Transcript Verlag erschienen ist. In diesem
Buch haben die beiden Wissenschaftlerinnen neben ihren eigenen
Beiträgen eine Fülle von Untersuchungen weiterer Autorinnen und
Autoren zusammengetragen, die das Thema „Hidschab“ aus rechts-,
sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive erklären. Unter
anderem wird der juristische und politische „Kopftuchstreit“ in
Deutschland, Österreich und der Schweiz dokumentiert. Ebenso werden
die historischen Vorgänger der jetzigen Auseinandersetzung benannt
und auf zeitgemäße Koranexegesen verwiesen. Besonders erfreulich ist
es, dass auch ausführlich auf den islamischen Feminismus und seine
Differenz zum westlichen eingegangen wird, ein Thema, das im
Islamdiskurs oft vernachlässigt wird. Auf diese Weise ist es
gelungen, die unterschiedlichen Aspekte der Problematik aufzuzeigen
und Werte und Prinzipien der Auseinandersetzung auszuleuchten. Wobei
der Schwerpunkt eher auf dem Bemühen um Verständnis für die
„Kopftuchbefürworterinnen“ liegt.
Die Kleidung als Metapher
Die Problematisierung der muslimischen Frauenbekleidung nahm ihren
Anfang im Rahmen französischer und britischer Kolonialpolitik im
Nahen Osten, als dem „Hidschab“ zunehmend eine
Stellvertreterfunktion erwuchs.
Als beispielsweise Frankreich 1830 begann, Algerien zu besetzen,
trachtete es danach, dieses Land „französisch“ zu machen. Dafür
musste die Kolonialmacht die alten algerischen Strukturen
zerschlagen. Und dabei spielten die Frauen eine Hauptrolle. So wie
es Frantz Fanon, französischer Schriftsteller und Psychiater, der
1953 nach Algerien ging und dort als Chefarzt arbeitete, 1959 in
seinem Buch „Im fünften Jahr der algerischen Revolution“ schrieb:
"Wenn wir die Struktur der algerischen Gesellschaft zerstören
wollen, ihre Fähigkeit zum Widerstand, müssen wir als erstes die
Frauen erobern, wir müssen uns daran machen, sie hinter dem Schleier
zu finden, wo sie sich verstecken und in den Häusern, wo die Männer
sie außer Sicht halten."
Konsequenterweise versuchte Frankreich daher, die Frauen zu
emanzipieren, indem etwa Hilfsorganisationen zur Unterstützung der
algerischen Frauen gegründet, Schulangebote für Frauen und Mädchen
erarbeitet und Radiosendungen zum Thema Frauenrechte ausgestrahlt
wurden. Bei all diesen Maßnahmen wurden die Frauen ermutigt, das
äußere Symbol der Unterdrückung, den Schleier, abzulegen. Vielfach
fanden öffentliche Entschleierungsaktionen statt. Doch so sehr viele
Algerierinnen die emanzipatorischen Wege auch begrüßten, so waren
diese Maßnahmen dennoch quasi vergiftet.
Denn umgekehrt bemächtigte sich gleichzeitig auch der antikoloniale
algerische Widerstand des Geschlechterdiskurses, indem er die
algerische Frau flugs zur Hüterin der arabisch-islamischen Werte
erklärte und zum Symbol der religiösen und kulturellen Identität
erhob. Folglich sahen viele algerische Männer eine unverschleierte
algerische Frau als Kollaborateurin an. Die „Entschleierung“ galt
als Kapitulation vor den europäischen Kolonisatoren. Damit befanden
sich die algerischen Frauen in einem echten Dilemma.
Die 1939 geborene algerische Soziologin und Feministin Marie-Aimée
Hélie-Lucas, die aktiv am Unabhängigkeitskampf teilgenommen hatte,
kommentierte in den 1980er Jahren das Dilemma nachträglich so:
"Wie konnten wir also das Problem des Schleiers als Unterdrücker der
Frauen aufgreifen, ohne sowohl die Nation als auch die Revolution zu
verraten? Viele junge Frauen, sogar solche, die in liberalen
Familien aufgewachsen waren, trugen freiwillig den Schleier als
Demonstration ihrer Zugehörigkeit zum unterdrückten algerischen Volk
... Wir erkannten nicht die Konsequenzen solch einer ideologischen
Verwirrung. Auch wir hatten Angst, das Volk, die Revolution und die
Nation zu verraten. An keinem Punkt sahen wir, dass auf unserer
geistigen Verwirrung eine Machtstruktur errichtet wurde, die sich
auf die Kontrolle des Privatlebens und der Frauen stützte ..."
(Marie-Aimée Hélie-Lucas: “Women, Nationalism, and Religion in the
Algerian Liberation Struggle”, 1987)
Im Rahmen der Kolonialpolitik war der Hidschab
also endgültig zum
Symbol der Unterdrückung der Frau und der Rückständigkeit einer
Gesellschaft geworden – oder, wie die in Berlin lebende Juristin Cengiz Baskammaz es in dem vorliegenden Buch nennt, zum Nachweis
„der ontologischen Differenz und Unterlegenheit islamischer
Gesellschaften“ („Die postkoloniale Konstruktion des Kopftuchs“, S.
369).
Die Problematik dieser historischen Situation wirkt wie ein
verzerrtes Spiegelbild unserer Gegenwart. So wie „der Westen“ einst
im Rahmen des kolonialen Diskurses begonnen hatte, den Schleier als
Metapher der Unterdrückung zu etablieren, so wurde er im Gegenzug
für die muslimische Seite urplötzlich zum Symbol der Identität und
des Widerstandes. Diese wechselseitige Symbolträchtigkeit ist ihm
bis heute weitgehend erhalten geblieben. Vielen muslimischen Frauen
ist das Kopftuch, gerade in westlichen Ländern, weniger ein
religiöses Bedürfnis als vielmehr ein Identitätsmerkmal, oft sogar
ein bewusstes Abgrenzungssignal. Die Angst, die eigene Identität,
das „eigene Gesicht“ und die tradierte Kultur zu verlieren und von
der Mehrheitsgesellschaft oder „dem Westen“ vereinnahmt zu werden,
ist bei vielen präsent. Ob zu Recht oder nicht, sei dahin gestellt.
Auf jeden Fall offenbaren sich hier Konfliktlinien der europäischen
Zuwanderungsdebatten.
Eine typische Erscheinung dieser Generation sind die so genannten
Neo-Muslimas. So bezeichnet die Soziologin Sigrid Nökel in ihrem
Buch „Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam“ die jungen Frauen
mit muslimischem Hintergrund, die sich wieder stärker der Religion
und der islamischen Kleiderordnung zuwenden, sich dabei aber
gleichzeitig erfolgreich ins höhere Bildungswesen integrieren und
beruflichen Ehrgeiz entwickeln. Diese Frauen definieren sich über
Bikulturalität und Religion und betonen dies bewusst. Eine
32-jährige Akademikerin, die sich seit dem 15. Lebensjahr „bedeckt“,
also Kopftuch trägt, drückte es so aus:
„Ich stellte irgendwann fest: Ich kann keine Deutsche sein, ich bin
keine Türkin. Ich bin aber Muslima.“
Die Kopftuchbegründung
Zwei Begründungen werden vorrangig für das Kopftuchtragen und die
islamische Kleidung genannt:
1. der Schutz vor Belästigungen von Männern
2. die bewusste Unterscheidung und Abgrenzung von nicht frommen
Frauen und Nicht-Musliminnen
Verknüpft man die drei Koranstellen (Suren
24:31, 33:53 und 33:59), die sich zur Kleidung der Frau und zur
Geschlechtertrennung äußern, und die beiden meist genannten Gründe
für das Tragen des Kopftuches, so ergibt sich ein ziemlich klares
Szenario. Zum einen geht es um den Schutz der Frauen vor
zudringlichen Männern und zum anderen um eine Abgrenzung von
Andersdenkenden. Und genau das sind die beiden Punkte, die in den
Gesellschaften Deutschlands und Europas so stark polarisieren. Und
zwar polarisiert das Was – was soll die Frau bedecken – sogar
weniger als das Warum – warum soll die Frau sich be- oder verdecken.
Und dieses Warum weist direkt auf das Verständnis der
Geschlechterrollen und das der Gleichberechtigung von Mann und Frau
im Islam hin. Die Begründung des Schleiergebotes reduziert jede Frau
auf ein Wesen, "das Reize auslöst", macht sie so also zum Objekt
männlicher Wünsche, Ansprüche und Hormone, wie die
Islamwissenschaftlerin Claudia Knieps es 2005 in einem Aufsatz
(„Konfliktstoff Kopftuch“) formulierte. Es weist darüber hinaus
darauf hin, dass unter Gleichberechtigung im Islam, zumindest in
seiner traditionellen Prägung, etwas anderes verstanden wird als im
westlichen Kulturkreis. Es wird nämlich, selbst unter muslimischen
Feministinnen, ganz überwiegend ein Gesellschaftsmodell mit
komplementären Geschlechterrollen vertreten, deren Gleichwertigkeit
in der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten gesehen wird.
Die Islamwissenschaftlerin
Silvia Horsch formuliert es so:
„Die Rechte und Pflichten sind unterschiedlich, aber es besteht
Gleichberechtigung darin, dass sie (die Pflichten) gerecht verteilt
sind.“
Umgekehrt werfen, wie Birgit Rommelspacher darlegt, viele
muslimische Feministinnen ihren westlichen Kolleginnen vor, dass
diese die Emanzipation nicht mehr an der Ungleichverteilung von
Arbeit, Einkommen und Status zwischen Männern und Frauen, sondern am
Abstand zwischen westlichen und muslimischen Frauen bemessen würden.
Diese konträren Standpunkte aber tangieren gesamtgesellschaftliche
und politische Machtfragen.
Vielleicht ist genau das dann auch der tiefere Grund dafür, dass im
Kopftuchdisput von islamischen Verbänden in Deutschland so heftig
gestritten wird, als sei das Schleiergebot die sechste Säule des
Islams (Knieps). Tatsächlich aber ist die Meinung, die
Kopftuchpflicht gehe eindeutig aus dem Koran hervor, nur eine von
mehreren Auslegungen im innerislamischen Spektrum. Was bei der
Fokussierung auf das Kopftuch in seiner Stellvertreterfunktion
vielfach ausgeblendet wird.
Denn die Muslima, die gar kein Kopftuch tragen, werden in der
Öffentlichkeit allgemein überhaupt nicht als solche wahrgenommen.
Das aber sind in Deutschland immerhin rund 70 Prozent, also mehr als
zwei Drittel, wie die vom Innenministerium im Juni 2009 vorgestellte
Untersuchung zeigte. Unter diesen Gegnerinnen eines allgemein
verbindlichen Schleiergebotes, das sich bei zeitgemäßer Exegese in
der Tat nicht zwingend aus dem Koran ableiten lässt, sind sowohl
gläubige Muslima als auch säkular eingestellte Frauen.
Exakt auf den Punkt brachte es Necla Kelek schon 2005 in ihrem Buch
„Die
fremde Braut“:
„Vom Schleier ist im Koran die Rede, das stimmt. Aber anders als das
tägliche Beten oder Fasten, die zeitlose Gebote zur Ehre Allahs
sind, gilt dies nicht für die Bekleidungsvorschriften. Sie verdanken
sich einem bestimmten historischen Kontext. Sie wurden einst als
Maßnahme eingeführt, um Frauen vor sexueller Gewalt und Männer vor
Ehrverlust zu schützen.
Statt die Täter zu bestrafen, wurden die Opfer verschleiert. Der
Schleier wurde also nicht, wie von den Strenggläubigen behauptet,
als ein Zeichen des Glaubens eingeführt, sondern um die Frauen vor
der Zudringlichkeit der Männer zu schützen. Weil Männer durch die
teuflische Aura der Frau in ständige Versuchung geführt werden und
sich nicht beherrschen können, müssen die Frauen durch den Schleier
„unsichtbar“ gemacht und aus der Öffentlichkeit verbannt werden.
Eine geniale Doppelstrategie. ….
Aber wie kommt eine Demokratie dazu, den Schleier oder das Kopftuch
zu akzeptieren? Hier brauchen wir den Schleier nicht als Schutz vor
Gewalt. Dafür gibt es Gesetze. Und die zwingen nicht das Opfer zur
Freiheitseinschränkung, sondern den potenziellen Täter bei Androhung
von Strafe zur Selbstbeherrschung.“
Diese Position Keleks betont einmal mehr die Symbol- oder sogar
Platzhalterfunktion des „Hidschab“. Letztendlich geht es dabei um
einen durch die Integrationsfrage bedingten
gesamtgesellschaftlichen, also soziologischen und politischen
Diskurs, es geht um Wertekonsens, Geschlechterverhältnis und
Grundgesetzkompatibilität – und um die beiderseitige Angst vor dem
Identitätsverlust.
Einige inhaltliche Ungenauigkeiten und ein paar Flüchtigkeitsfehler
– etwa die falsche Abkürzung für den Zentralrat der Muslime in
Deutschland: ZDM statt richtig ZMD – tun dem Informationswert dieser
facettenreichen Argumentations- und Materialsammlung von Sabine
Berghahn und Petra Rostock zum Thema „Kopftuchdebatte“ keinen
Abbruch. Sie fordern lediglich dazu auf, das Buch auch inhaltlich
mit aufmerksamer Distanz zu lesen.
20.09.2009
Sabine Berghahn, Petra Rostock (Hg.)
Der Stoff, aus dem Konflikte sind – Debatten um das Kopftuch
transcript Verlag Bielefeld, 2009, 29,80 €, ISBN 978-3-89942-959-6
http://www.transcript-verlag.de/ts959/ts959.php