Faszinosum 1950er Jahre
Literatur, Medien und Kultur der jungen Bundesrepublik
Jasmin Assadsolimani / Gregor Nikolaus Matti / Philipp Pabst / Sönke
Parpart / Philip Schwartz (Hg.)
transcript Verlag, 2024, 366 Seiten, 49 Euro
ISBN: 978-3-8376-6962-6
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Faszinosum
1950er Jahre
Literatur, Medien und Kultur der jungen Bundesrepublik
- neu betrachtet
Christa Tamara Kaul -
Mai 2024 -
Beitrag
bei Telepolis
Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz, 75
Jahre Bundesrepublik Deutschland – da liegt es nahe und ist spannend,
den Blick auf die Anfänge, sozusagen die Jugendjahre unseres Staates,
zu richten. Und die, die 1950er Jahre, waren eine bewegte Zeit, deren
zeitnahe Beurteilung kaum widersprüchlicher ausfallen konnte. Als
kraftvolles Aufleben nach den traumatischen Erfahrungen von
Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieges, von Flucht und Vertreibung
erlebten und beschrieben es die einen. Als piefig und
rückwärtsgewandt oder gar reaktionär empfanden es andere. Und weder
das eine noch das andere trifft es für sich allein. Mit dem
zeitlichen Abstand nivellieren sich die Urteile. Denn es ist gerade
die Mischung mehrerer Aspekte, die die Faszination dieser Zeit
ausmacht, in der es vorrangig darum ging, das materielle und geistige
Trümmerfeld, das Diktatur und Krieg hinterlassen hatten, so schnell
wie möglich zu bereinigen.
Spannend ist der Rückblick auf 1950er vor allem für diejenigen, die
diese Zeit noch nicht selbst erlebt haben. Folgerichtig hat sich
diesem widersprüchlichen „Faszinosum“ hinsichtlich von Literatur,
Kunst und Populärkultur jener Zeit nun ein Team jüngerer Autorinnen
und Autoren des transcript-Verlages gewidmet und ist dabei auch auf
teilweise Unerwartetes gestoßen.
„Seit geraumer Zeit wird die Zeit nach 1945 – insbesondere für die
Bundesrepublik – anders bewertet. Nicht mehr von Restauration,
Muff, Enge und Verstocktheit ist die Rede, sondern von
Liberalisierung, Modernisierung, Westernisierung, Normalisierung oder
Rezivilisierung. Aus der patriarchal-autoritären „Adenauerzeit“ wurde
,Die geglückte Demokratie’.“ So fasst Erhard Schütz,
Literaturwissenschaftler und Professor a. D., in dem „Handbuch
Nachkriegskultur“ sein Resümee über diese Zeit zusammen. Und ein sehr
ähnliches Bild ergeben die über zwanzig mosaikartig zusammengefügten
Beiträge zu unterschiedlichen Themen jener Zeit auch in dem
vorliegenden transcript-Band.
Vor allem in Anlehnung an die in vieler Hinsicht als Vorbild
empfundenen USA war diese Zeit geprägt von einem starken kulturellen
Wandel. Mit der politischen und wirtschaftlichen Integration in
die westliche Welt ließen sich in vielen Bereichen Übergänge vom
Vertrauten zum zeitgenössisch Modernen erkennen, etwa in der
Durchsetzung der Abstraktion in der Bildenden Kunst oder im
beginnenden Siegeszug des Rock 'n' Roll, einem spektakulären und
langfristig umwälzenden massenkulturellen Ereignis. Die Popkultur
florierte. Jugendliche begannen, sich von den Traditionen ihrer
Eltern zu lösen und neue Lebensstile zu adoptieren. Doch während
einerseits die meisten im „Wirtschaftswunderland“ Deutschland (West)
das (scheinbar) Leichte der Unterhaltung und des Konsums genossen, um
möglichst schnell über die Schrecken des gerade zuvor Erlebten
hinwegzukommen, manifestierten sich andererseits – vor allem im
intellektuellen Bereich – die belastenden Erinnerungen an Krieg,
Flucht und Faschismus zunehmend stärker.
In der Literatur der 1950er Jahre entwickelte sich – nicht nur,
aber doch auffallend stark – die Auseinandersetzung mit der
nationalsozialistischen Epoche und dem Krieg. Literaten wie
Heinrich Böll, Günter Grass und Ingeborg Bachmann, der
Schriftstellerkreis Gruppe 47, eher auf der Unterhaltungsebene aber
auch Autoren wie Heinz G. Konsalik, spielten in der Diskussionen über
Moral, Schuld und Verantwortung eine bedeutende Rolle. Ihre Werke
reflektierten die politischen, sozialen und moralischen
Herausforderungen auf unterschiedlichen intellektuellen Ebenen und
leisteten bei deren Verarbeitung in der Nachkriegszeit einen
wichtigen Beitrag zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit und der
Entwicklung einer neuen Identität.
Auf dem Gebiet der Medien erlebte das Fernsehen in Deutschland
seinen Durchbruch. 1954 wurde die ARD als erste öffentliche
Rundfunkanstalt gegründet und läutete damit den Beginn des modernen
Medienzeitalters ein. Insgesamt waren die Entwicklung der
Medienlandschaft in den 1950er Jahren und die Gestaltung der
Programme vor allem beeinflusst von der weit verbreiteten Sehnsucht
nach Normalität und Wohlstand. Doch das neue Medium Fernsehen war es
auch, das den Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR und die
aufkommende atomare Bedrohung in die Wohnzimmer brachte – und damit
erneut Kriegsängste schürte und vielfach für Gefühle der Unsicherzeit
sorgte.
Mit den Jahren zunehmend vernehmbarer wurden die Diskussionen um
konservative Gesellschaftsnormen und die ersten Auflehnungen gegen
diese. Sie wurden in den 1950er Jahren durchaus lauter, besonders
hinsichtlich der Geschlechterrollen. Die traditionelle Rolle der
Hausfrau und Mutter, bisweilen spöttisch als „die germanische
Vollzeitmutter“ apostrophiert, war noch weitgehend im allgemeinen
Familienbild verankert, was zu eingeschränkten Möglichkeiten für die
persönliche und berufliche Entwicklung führte. Die Gleichberechtigung
der Geschlechter war auch rechtlich noch nicht vollkommen
durchgesetzt. Auch wenn Frauen in Deutschland bereits seit 1919 das
allgemeine Wahlrecht besaßen, so wurde aber erst 1958 die gesetzliche
Neuregelung eingeführt, die verheirateten Frauen erlaubte, ohne die
Zustimmung ihres Ehemanns einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In
diesem Umfeld entwickelten sich aber auch ein zunehmendes
Modebewusstsein und der Einfluss entsprechender Mode- und
Frauenzeitschriften. Endlich wieder etwas Luxus – nach den harten
Kriegsjahren und den vielfältigen Entbehrungen. Und nach und nach
auch die mehr oder minder heftige Auflehnung gegen das traditionelle
Vorkriegsfrauenbild.
Aber es entwickelte sich auch eine lebhafte Diskussion über Art
und Zustand des Konservatismus insgesamt. Einer der meist
beachteten Beiträge jener Zeit stammt von Friedrich Sieburg, der in
der FAZ (23. 9. 1959) unter dem Titel „Darf man noch konservativ
sein?“ die schlichte Definition gab: „Konservativ sein heißt bewahren
wollen. Es heißt, bewahren wollen, was ist, nicht zurückrufen, was
gewesen ist.“ Was etwa ein Jahrzehnt später mit der 68er
Jugendrevolte eine ziemlich radikale Abfuhr erhielt. Und was bis
heute keineswegs ausdiskutiert ist. Doch es ging schon in den
Fünfzigern nicht nur um die gesellschaftliche und politische
Verfasstheit der Menschen. Es zeichneten sich bereits die ersten
Abgesänge auf deren pure Existenz und deren Entbehrlichkeit ab.
Der Mensch kann gehen. Und: Die Roboter sind unter uns. So die
Titel einiger Publikationen. „Der Stil der Zukunft wird der
Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende,
Biologie Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und
ausgelaugt.“ Und so läutete Gottfried Benn 1950 die «Phase II der
Moderne“ ein. Von unbewältigter Technik und von Menschmaschinen ist
die Rede. Fakt war, dass die Automation, wie es aus dem Englischen
zunächst übernommen wurde, später eingedeutscht als Automatisierung
bezeichnet, rasante Fortschritte im wirtschaftlichen Bereich machte.
Wovon zunächst besonders die Autoindustrie profitierte. Doch gerade
die kommerziellen Vorteile beförderten „den Roboter“ zu „einer
zentralen Figur im kollektiven Imaginären der bundesrepublikanischen
Gesellschaft“, wie der Beitrag von Christoph Jakubowski und anderen
eindrücklich darlegt. Und wenn in dieser Zeit angstraunend von
Menschmaschinen die Rede war, dann vor allem auch deshalb, weil
sowohl Lebewesen wie der Mensch als auch automatisierte Maschinen
aufgrund ähnlicher kybernetischer Prinzipien, einem
Forschungsschwerpunkt jener Zeit, in Bewegung geraten.
Was von den teilweise bedrückenden Vorhersagen ebenso wie von den
zukunftsfrohen Narrativen schließlich Realität wurde, macht den
Rückblick aus heutiger Sicht reizvoll. Und es wird deutlich, dass
die bisweilen noch immer als unfreiwillig komisch belächelten
„Insignien“ jener Zeit - von Heimatfilmen und Nierentisch bis zu
Rosemarie Nitribitt, der „Kurtisane des Wirtschaftswunders“ – eben
nur ein Teil der „Fünfziger“ waren. Aber keineswegs deren Markenkern.
Es ist gerade die Vielfältigkeit, das durchaus kraftvolle Einlassen
auf Versuch und Irrtum, aus dem sich das mosaikartige „Faszinosum“
jener Zeit zusammenfügt. Und dessen teilweise Darstellung den
vorliegenden Band spannend und lesenswert macht – sowohl für noch
lebende Zeitzeugen als auch – und besonders – für Jüngere.
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