„Und ich traue den Evangelien doch“
Josef Ratzinger - Benedikt XVI.: Jesus von
Nazareth
Von
Christa
Tamara
Kaul -
An
hervorragenden Publikationen von Josef Ratzinger mangelt es nicht. Er
hat in seinem Leben viele verfasst und dazu brillante Diskurse geführt –
als Theologieprofessor, als Bischof und als Kardinal. Doch das am 16.
April 2007, seinem achtzigsten Geburtstag, erschienene Buch „Jesus von
Nazareth“, der erste von zwei geplanten Bänden, nimmt dennoch eine
Sonderstellung ein.
Nicht nur weil das Buch mit doppeltem Autorennamen
versehen – Josef Ratzinger und Benedikt XVI. – und sowohl vor als auch
nach seiner Wahl zum Papst entstanden ist. Sondern vor allem, weil es
als eine Art Lebenswerk, zu dem er „lange innerlich unterwegs gewesen“
ist, und auch als Vermächtnis zu betrachten ist. Wie der Titel sagt, geht es
um Jesus Christus, zentrale Person und Namensgeber des Christentums.
Wer aber war dieser Jesus von Nazareth? Mensch, Gottes Sohn, Prophet,
Revolutionär, Sozialreformer? Ist er rational zu begreifen oder eher
mythische Figur? Was geht er uns heute noch an? Auf diese Fragen
versucht Josef Ratzinger gemäß seiner Glaubensüberzeugung und seiner
wissenschaftlichen Kenntnisse ganzheitlich und umfassend zu antworten.
Dabei stellt er bereits am Anfang klar: „Das Wirken Jesu ist nicht als
ein mythisches Irgendwann anzusehen, das zugleich immer und nie bedeuten
kann; es ist genau datierbares historisches Ereignis mit dem ganzen
Ernst wirklich geschehener menschlicher Geschichte – mit ihrer
Einmaligkeit, deren Weise von Gleichzeitigkeit mit allen Zeiten anders
ist als die Zeitlosigkeit des Mythos.“
Die ausführliche Exegese bedingt notwendigerweise eine
Auseinandersetzung mit anderen Theologen, die sich zum Thema geäußert
haben. Das ist deshalb umso wichtiger, als in den vergangenen
Jahrzehnten die Spannbreite zwischen Lehramtmeinung und weiten Kreisen
der Theologie deutlich zugenommen hat. Nach den vielfältigen Versuchen,
den authentischen Jesus aus den Schriften herauszukristallisieren, zumal
nach den Bestrebungen dekonstruktivistischer Textkritik der
Jesus-Gestalt, ist der Eindruck zurückgeblieben, dass „wir wenig Sicheres
über Jesus wissen und dass der Glaube an seine Gottheit erst
nachträglich sein Bild geformt“ habe. Dieser Eindruck, so Ratzinger, sei
inzwischen weit in das Bewusstsein vieler Christen vorgedrungen. Zwar
sei die historische Herangehensweise nicht völlig obsolet, jedoch könne
sie auf keinen Fall den „ganzen Jesus“ erfassen. Allem voran könne der
Nachweis, dass Jesus Gottes Sohn sei, historistisch auf keinen Fall
erbracht werden. Neben dem "historischen Jesus" sei auch der "Christus
des Glaubens" notwendig, um ihn in seiner Fülle verstehen zu können.
Dementsprechend führt Benedikt XVI. durch viele Passagen des Alten und
des Neuen Testamentes und legt sie aus, etwa die Mosesgeschichte, die
Bergpredigt, das Vater-Unser oder die Gleichnisse, und das in einem
durchaus anspruchsvollen theologischen Stil, dem dennoch Laien folgen
können. Jesus wird als ein neuer Moses gezeigt, einer, der mit den
jüdischen Gesetzen vertraut ist, sie achtet und schließlich
weiterentwickelt. Die Bezüge zu den jüdischen Wurzeln des Christentums
werden weiträumig aufgezeigt, wobei, zumindest für Nicht-Theologen,
immer wieder neue, faszinierende Aspekte sichtbar werden. Etwa bei der
innerhalb der Passionsgeschichte im Allgemeinen weniger beachteten
Person des Barabbas, der von Pilatus an der Stelle Jesu freigelassen
wird. Beeindruckend klar wird hier auf die messianische
Doppelgängerrolle des Barabbas verwiesen, die sich sowohl im Namen als
auch in der ihm vom Volk zugeschriebenen Mission äußert. Auch er
versprach dem jüdischen Volk die Freiheit und das eigene Reich,
allerdings in einem ganz anderen, nämlich politischem Sinn. Und er trägt
nicht nur denselben Vornamen, also Jesus, sondern sein Nachname bedeutet
übersetzt auch noch „Sohn des Vaters“. Anhand dieser Analyse wird der
fundamentale Unterschied in den Auffassungen vom messianischen Auftrag,
der eben „nicht von dieser Welt“ ist, klar ersichtlich.
Aufgrund der Exegese, bei der es ihm immer auch um die Vereinbarkeit von
Vernunft und Glauben geht, kommt Benedikt XVI. mit der Aussage „Und ich
traue den Evangelien doch“ zu dem eindeutigen Schluss, dass der
„wirkliche“, der historische Jesus, kein anderer sei als eben der des
Neuen Testaments. Die eigentliche Persönlichkeit Jesu sei in seiner
Gemeinschaft und Wesenseinheit mit Gott Vater begründet. Ohne diese
göttliche Einheit bleibe seine Person unwirklich und unerklärlich. Nur
unter der Prämisse, dass Jesus Gottes Sohn sei, könnten die Texte der
Bibel wirklich verstanden werden. Und das heißt für ihn: Der Christus
des Glaubens ist der Jesus der Geschichte.
Und was die aktuelle Geschichte angeht, also die Gegenwart, weist
Ratzinger abermals auf die Gefahren und kritischen Auswirkungen der
Gottvergessenheit und des Relativismus hin. Ein Leben ohne Gott müsse
letztendlich zu einem unmenschlichen Leben führen, weil so Freiheit zur
Beliebigkeit oder gar Willkür umgedeutet werde. Er kritisiert scharf die
„Mächte des Marktes, des Handels mit Waffen, mit Drogen und mit
Menschen" und die „Ideologie des Erfolgs, des Wohlbefindens", vor allem
in den reichen Ländern der westlichen Hemisphäre. Deren Kolonialismus
habe den Zynismus einer Welt ohne Gott zu den Völkern Afrikas getragen
und sie geistig wie materiell geplündert, anstatt ihnen Gott zu geben.
Leider fehlt etwas in diesem Buch, und zwar die Frauen. Obwohl sie in
den Evangelien keine geringe Rolle spielen. Immerhin bezeugen
beispielsweise Frauen als erste die Auferstehung Jesu. In diesem Buch
aber kommen sie so gut wie nicht vor. Schade. Denn es ist
im Übrigen ein außergewöhnliches, wichtiges Buch, das ganz sicher noch länger in der
theologischen Diskussion bleiben und diese weiter tragen wird.
Josef Ratzinger - Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth
Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung
2007, Herder Verlag, ISBN 3-451-29861-9 (ISBN 978-3-451-29861-5)